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Abschied von einer Kamera

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Brand in Kariakoo, 20. Januar 2016

Dar Es Salaam, den 21. Januar 2016

Technische Geräte haben teilweise ähnliche Schwierigkeiten wie Menschen: Sie altern. Nach viereinhalb Jahren musste ich mich nun von meiner Digitalkamera verabschieden. Seit ihrem vierten Geburtstag hatte sie schon immer wieder Rentenansprüche angemeldet, aber ich hatte sie immer wieder vertröstet und ihr gut zugeredet, sie ein paar Mal zerlegt und musste gestern schließlich einsehen, dass ihre Zeit wohl gekommen war. Denn wie sollte man einem Gerät eine Fehlerdiagnose stellen, das einfach gar nichts mehr tut, wenn man den Einschaltknopf betätigt? Sie schweigt und ihr Betriebssystem ist wohl schon in den Gerätehimmel entschwebt.

Wahrscheinlich ist eine Kamera kein Wesen. Aber es ist dennoch so, dass ich einen Bezug zu ihr hatte. In der Zeit, in der ich mit ihr fotografiert habe, hat mich meine Kamera an viele Orte begleitet. Ich erinnere mich an viele spannende, schöne, abenteuerliche Situationen, wenn ich sie in der Hand hatte. So auch an diesem Mittwoch, als wir morgens zu einem Brand im größten Geschäftsviertel von Dar Es Salaam gerufen wurden. Sie wartete treu in meiner Brusttasche, bis ich meine Arbeit als Feuerwehrmann getan hatte und Zeit fand, sie hervorzuholen und einige Bilder aufzunehmen. Bilder, die ich gerne mit euch teile.

Es wird Zeit, sich nach einer Nachfolgerin umzusehen. Ich sehe mich derzeit nach einem geeigneten Modell um. Dieses wird sich finden lassen. Es gibt einen weiteren Punkt, in dem ich allerdings auf die Unterstützung von Freunden, Bekannten und Lesern hoffe, auf Euch hoffe. Als Weltwärts-Freiwillige dürfen wir keine bezahlte Arbeit im Gastland annehmen. Sonst würde ich mich bemühen, mit ein, zwei Aufträgen mein Taschengeld aufzubessern und eine neue Kamera zu kaufen.

Deshalb werde ich Euch fragen, mir zu helfen. Es ist eine Crowdfunding-Kampagne auf Generosity.com online gegangen, wo ihr mich unterstützen könnt. Die Seite findet sich hinter dem Link http://igg.me/at/evf5LgUuQmU. Wenn ihr, jede und jeder nach eigenem Vermögen, ein Stückchen dazu beitragen könnt, bin ich sehr froh. Und wenn ihr meine Freude an der Fotografie teilt, werdet ihr bald wieder scharfe Bilder, die euch Geschichten erzählen wollen, anschauen können. Und ihr werdet wissen, dass ihr ein gutes Stück dazu beigetragen habt, dass diese Geschichten erzählt werden.

Eine positive Nachricht gibt es allerdings: Mein defektes Notebook wird auf der Heimreise Gesellschaft haben, sodass es sich auf dem langen Flug nicht einsam fühlt.

Rückblick

Hier findet ihr eine Auswahl an Bildern und Orten, an die mich meine Kamera begleitet hat. Es sind gute Erinnerungen, die ich mit ihnen verbinde. Sie werden die Kamera noch lange überdauern. Welche Orte erkennt ihr wieder? Der erste Kommentator oder der Absender der ersten E-mail mit einer richtigen Antwort bekommt eine Postkarte mit einem unveröffentlichten Abzug aus Tansania.

Maschinenfabrik, 2015
Maschinenfabrik, 2015
Treppenhaus, 2015
Treppenhaus, 2015
Schiffsbug, 2013
Schiffsbug, 2013
Yachten, 2013
Yachten, 2013
Fenster, 2015
Fenster, 2015
Bauernhof, 2015
Bauernhof, 2015
Steine, 2015
Steine, 2015
Strand, 2015
Strand, 2015
Bühne, 2013
Bühne, 2015
Arbeiter, 2014
Arbeiter, 2014
Aufzugschacht, 2015
Aufzugschacht, 2015
Foto 16.03.15 19 51 46
Spannbeton, 2015
Foto 16.03.15 19 04 53
Wartungshalle, 2015
Menschen, 2015
Menschen, 2015
Anlagen, 2015
Anlagen, 2015
Verladerampe, 2011
Verladerampe, 2011
Hafen, 2014
Hafen, 2014
Wolkenkratzer, 2015
Wolkenkratzer, 2015
Fenster, 2015
Fenster, 2015
Segelschiff, 2014
Segelschiff, 2014
Enten, 2014
Enten, 2014
Graffiti, 2014
Graffiti, 2014
Museum, 2012
Museum, 2012
Meißelköpfe, 2012
Meißelköpfe, 2012

G.: Ein richtiger Arbeitstag

Montag, der 18. Januar 2016

G. mag es, wenn es dunkel ist. Wenn es dunkel ist, klingelt sein Wecker noch nicht. Manchmal klingelt der Wecker auch im Dunkeln. So wie an diesem Montag. Immerhin war G. vorgewarnt. Bereits um viertel vor sechs hatte er D. und L. das Haus verlassen hören, die für den Kilimanjaro-Marathon trainieren. G. tut das auch, aber erst ab sieben auf der Wache. Also aufstehen, duschen, hoffen, dass das Wasser reicht. Tasche packen. Die Antidiebstahltasche hat sich bisher bewährt, denn sie ist noch da. Allerdings kämpft sie als Prototyp mit diversen Mängeln, sodass sich G. freute, als er auf der Wache ankam, ohne dass sein Arm gänzlich eingeschlafen war (das Schultergurtpolster ist zu dünn) oder die Tasche ihren Inhalt auf der Straße verstreut hatte (Die Nähte sind teilweise von sparsamer Qualität).

Das morgendliche Lauftraining absolvierte G. wie jeden Tag. Anschließend hatte S., der bei Freunden übernachtet hatte, schon Frühstück beschafft und G. hatte an die Nutella gedacht. Nutella: Sie gehört wie Cola und Müsli in den Vorratsschrank jedes Expats, der ein wenig auf sich hält. Warum, weiß G. nicht,da er in Deutschland eigentlich kein riesiger Nutella-Fan ist. Aber er weiß einfach, dass ein Wrap aus einem noch warmen Chapati, einer Banane und ausreichend viel Nutella einfach eine Basiszutat eines gelungenen Morgens ist. Dann wartete immer noch die Anfrage um Material an das Innenministerium, doch heute war endlich jemand da, mit dem man den Inhalt besprechen konnte. Das ging auch konstruktiv voran, nur um die Tatsache, dass dieser Verantwortliche gerne im Rahmen der Anfrage einen Dienstcomputer für sich zu Hause im Wert von ca. 700€ beantragen wollte, sorgte für eine kurze Diskussion. Letztendlich einigten sie sich darauf, dass G. sich bemühen würde, anderweitig einen Rechner zu beschaffen. Dann schrieb G. noch ein paar private E-mails, die schon lange auf Antwort gewartet hatten. Es störte ihn ein wenig, dass einer der Feuerwehrlehrlinge, der ein Tölpel ist, wie er im Buche steht, hinter G. stand und versuchte, seine Mail an A., eine kanadische Freundin, mitzulesen. Auf die Frage, warum er denn das Fenster geschlossen habe, meinte G. etwas unwirsch, er müsse im Antragsdokument noch etwas nachschauen. Dann wartete Abwechslung, denn G. durfte eine Lasche an den Landcruiser der Feuerwache Temeke anschweißen. Dies gelang ihm auch mit der einzigen, feuchten und abgeschlagenen Elektrode, die auf der Wache zu finden war. Dann schrieb G. an seinem Bericht weiter, während alles dafür vorbereitet wurde, ein Leck im großen Tanklöschfahrzeug zu schweißen. Dieses zerfällt langsam. Wegen gerissener Schweißnähte läuft auch der Schaumtank immer voll Wasser, was nicht allzu schlimm ist, da der Schaum immer in separaten Kanistern mitgeführt wird. Insgesamt nimmt die Verwindungssteifigkeit des Tanks aber mit jedem Riss ab. G. hat alles fotografiert und bereitet zur Zeit eine Beschwerde an den deutschen Hersteller vor, der offenbar nicht in der Lage war, ein Fahrzeug zu bauen, das elf Jahre lang ca. zweimal in der Woche tansanischen Straßenverhältnissen standhält.

Dann musste noch einer der Mechaniker den Chef der Wache, M., um Geld fragen, um Schweißdraht kaufen zu können. Dieser spendierte großzügig den Draht, mit herablassender Geste und keinesfalls so, als ob sein Job davon abhinge, dass die Wache funktioniert. Der Wachleiter ist ohnehin der größte Arsch am Platz, wie G. meint. Er hat, wie allen Angestellten bekannt ist, keinerlei Ahnung von irgendwelcher Feuerwehrarbeit. Er behandelt seine Untergebenen von oben herab beziehungsweise er ignoriert sie, da er ohnehin die meiste Zeit im Büro sitzt oder mit seinen Assistenten, die ihm zuhören müssen, plaudert. Das hat den Vorteil, dass man ihn die meiste Zeit auch ignorieren kann. Nur wenn man Geld oder Zustimmung für irgendein Projekt braucht, muss man leider mit ihm reden. G. verzichtet dabei vorsichtshalber auf die übliche Höflichkeitsfloskel für Vorgesetzte und bemüht sich, so zu wirken, als würde sein Kiswahili dafür nicht ausreichen. Na ja, die freundschaftliche Basis ist eher schmal, aber man kommt miteinander aus. So mächtig ist M. auch wieder nicht und in den meisten wichtigen Fällen kann man ihn umgehen.

Zurück zum Fall: Irgendwann war der Schweißdraht da und G. durfte sich im Autogenschweißen beweisen, das er während der Ausbildung ungefähr zweimal geübt hatte. Anschließend bügelte ein anderer Mechaniker die gröbsten Schnitzer in der Schweißnaht aus. G. hatte trotzdem das Gefühl, an diesem Tag wieder einmal nützlich zu sein. Kurz vor Feierabend fragte dann noch C., ob G. den Feuerwehrleuten zeigen könne, wie man mit einem Trennschweißer Metallteile zerlegt. G. freute sich, denn es war wieder Aufbruchsstimmung, etwas, das er in den letzten Wochen oft vermisst hatte. Er hatte sich manchmal gefragt, wo denn der Hubschrauber blieb, der auf dem Sportplatz landen und ihn zum Flughafen fliegen würde. Von dort wären es nur zwölf Stunden bis nach Hause. Nur für einen Schneeengel und eine Tasse Tee am Kamin. Aber jetzt war wieder Wind in den Segeln. G. schrieb eine Nachricht an So., ob sie sich zum Abendessen treffen wollten. G. wollte mal wieder plaudern. So. antwortete nicht. Das war nicht so schlimm, denn es gab Spaghetti und niveaulose Youtube-Videos. Handwerker. Und Jungs-WG.

G.: Let’s go to the movies!

Fallnummer 209
Msimbazi Police Station, Raubüberfall, Fallnummer 209, 2016 – Die Quittung

Samstagabend

Es war ein fauler Samstag. Nicht direkt nach Gs. Geschmack, aber immerhin so, dass er wieder etwas Verschnaufpause in dem sonst recht vollen Alltag bekam. Abends wollte er mit So. und A., ihrer Freundin, ins Kino gehen, es sollte Gs. erster Bollywoodfilm werden. Rechtzeitig und bevor das Date von S. und B. richtig Fahrt gewann, brach G. also nach Kariakoo auf, um sich indisches Kino zu Gemüte zu führen. Das wurde allerdings nichts, denn an der Kasse des Kinos stellten die Freunde fest, dass der Film auf Hindi ohne Untertitel sein würde. Also kaufte So. eine Karte für den Bollywoodfilm und A. und G. entschieden sich für „Concussion“, wo es um die lädierten Gehirne von Footballspielern geht. Das Thema fand G. mäßig interessant, die Aussicht auf einen Kinoabend mit A. dagegen umso mehr, denn er mochte sie gerne. Nachdem sie allerdings noch fast zwei Stunden bis zum Filmbeginn Zeit hatten, entschieden sich So., A. und G., noch in eine Kneipe zu gehen.

Das hätten sie nicht tun sollen. Denn erstens gab es dort nur Mangosaft aus der Tüte, nicht einmal gekühlt. Und außerdem wurden die drei auf dem Rückweg zum Kino überfallen. Zunächst sah es nur so aus, als würden ein paar Jungs die Mädchen anquatschen wollen, was ungefähr so außergewöhnlich ist wie die Punkte auf einem Fliegenpilz. Wenn die Verehrer allerdings eine Machete hervorziehen und Leuten Handtaschen wegnehmen, gehört das nicht mehr zu den gewöhnlichen Strategien. G. reagierte unbewusst mit der Routine, mit der er sich schon im Kindergarten gegen die großen Bösen verteidigt hatte: Chaos stiften und irgendwie durchwühlen. Erst brüllten er und der Machetenmann sich an, dann merkte G., dass ihn mehrere Hände packten. Er riss sich los und fiel hin. Eigentlich hatte er im Besonderen einen Gedanken im Kopf: Diese Hurensöhne kriegen mein Smartphone nicht. Er dachte an die schönen glatten Konturen seines Sony, das er diesen „Jugendlichen“ (eines der Synonyme für große, unberechenbare andere Kinder aus Gs. Kindheit) nicht geben wollte. Wie demütigend das wäre. Schlimmer noch, als den Besuch des Innenministers zu verpassen. Er rappelte sich noch einmal auf und sprang ein paar Meter weg von den Verfolgern. Dann schaltete sich Gs. Gewissen ein, das ihm sagte, dass er seine Freundinnen nicht im Stich lassen könnte. G. drehte sich um. Die Täter hatten mit As. Smartphone, Sos. Kreditkarte, etwas Bargeld und beiden Handtaschen ihr Plansoll offenbar erfüllt, denn sie rannten weg in eine Seitengasse. So., A. und G. rannten über die Straße auf einen bewachten Parkplatz, wo G. erst vergeblich den Polizeinotruf wählte und schließlich, die Wächter hatten die drei inzwischen hinausgeworfen, über den Control Room der Wache einen Kontakt zur Polizei bekam, die ihn abholte. Mit einer auf Zivil getrimmten Anti-Überfall-Patrouille fuhr G. noch einmal zurück an den Ort des Geschehens, wo eine Stunde später natürlich nichts mehr auszurichten war. Dann erstattete er auf der Polizeiwache Bericht. Die Beamten waren freundlich, einer von ihnen begleitete G. sogar zur Wohnung seiner Freunde zurück, wo G. auf dem Sofa übernachtete, da ihm die Heimfahrt angesichts der vielen, vielen einsamen Passagen auf dem Weg nach Magomeni nicht allzu verlockend erschien.

Drei Tage später wäre S. auf dieser Strecke, als er eine halbe Stunde nach G. über die Jangwani-Brücke fuhr, fast überfallen worden. Er konnte sich zwar in ein vorbeifahrendes Auto retten. Die Vorfälle stimmten die beiden dennoch nachdenklich, ebenso wie die Organisation in Hamburg. In einer E-mail wurden die Freiwilligen aufgefordert, die Sicherheitsregeln stärker zu berücksichtigen, gerade angesichts der Tatsache, dass sie inzwischen ein gewisses Gefühl von Sicherheit erworben hätten. Ebenso wurden G. und S. belehrt, es sei wünschenswert, dass sie beim nächsten Mal einfach ihre Wertsachen aushändigen würden. Was für Vollidioten, dachte sich G. im ersten Moment. Aus ihrem Loch mitten in Europa heraus zu fordern, dass man diesen Banditen seine Sachen aushändigt? Diesen niederen Geschöpfen? Nicht umsonst haben wohl Studien ergeben, dass Bedrohung durch Kriminalität eine starke emotionale Wirkung auf Menschen hat, selbst wenn die reale Gefahr eventuell in keinem Verhältnis zur empfundenen steht. Gs. Telefon hat 100€ gekostet, ein Treffer mit einer Machete ist wirtschaftlich gesehen ein größerer Schaden als der Verlust des Telefons. Doch ein bisschen geht es auch um das Prinzip. Ein Mzungu (Weißer Ausländer) ist kein wandelnder Selbstbedienungsladen. Kolonialgeschichte, Kulturrelativismus und Nächstenliebe hin oder her. Klar kann G. nur in diesen Relationen denken, weil er in sozial besser gestellten Verhältnissen aufgewachsen ist. Egal wie, er hat die E-mail gelesen und verstanden. Gutgeheißen hat er ihren Inhalt nicht, zumindest nicht emotional.

G. hat sich eine Anti-Raub-Tasche geschneidert, bei der der Trageriemen abgeht, wenn man eine Reißleine zieht. Er hat gemeinsam mit S. das Internet nach schnittsicheren Handschuhen durchforstet und sich über Schlagstöcke informiert. Der gepanzerte Humvee ist erst bei sehr großzügiger Spendentätigkeit aus der Heimat drin. Die Backdoor im Tigo-Mobilfunknetz zum Tracking von Verdächtigen muss dagegen nur noch gefunden werden. Mal sehen, wie es wirklich wird. G. weiß, dass Gehorsam angesichts von willkürlichem Zwang eine große Demütigung für ihn darstellt. Und er weiß auch, dass man manchmal keine Wahl hat. Beim ersten Mal ist er mit dem Schrecken und ein paar Schrammen davongekommen. Falls es ein zweites Mal gibt, kommt ihm sicher wie im Film Superman zu Hilfe. Let’s go to the movies.

G.: Zeit für das Wochenende

Freitag, den 8. Januar 2015

G. hat keinen guten Tag. Er ist auf die Wache gekommen, wo alle wie wild putzten, weil ein Besuch des Innenministers angekündigt war. Er hat kopfschüttelnd seinen Frühsport absolviert und ist dann ins Büro gegangen, um ein Betriebssystem auf seinem Laptop zu installieren, da er endlich seinen Quartalsbericht für Weltwärts schreiben und die Daten seiner Kamera sichern muss. Unbemerkt von ihm ist der Minister auf der Wache angekommen, hat sich alles angeschaut und ist wieder gegangen.

Als G. das Büro verließ, fuhr der Minister gerade weg, jede Menge Medienleute standen herum und interviewten die hohen Offiziere. Eine Party tansanischer Staatlichkeit, wie er sie schon auf der Militärparade erlebt hatte. G. kam sich fremd vor. C. sprach ihn an, wo er gewesen sei. G. antwortete, er habe seinen Rechner installiert, ein Ministerbesuch halte die Zeit nicht an. C. ist einer der obrigkeitsskeptischen Feuerwehrleute, ausgebildet in Tokio und Hamburg. G. sprach mit Kollegen, die meinten, der Innenminister sei nicht besonders erfreut gewesen über den Zustand der Wache. Offenbar hatte das Löschfahrzeug in der Anwesenheit des Ministers eine Panne beim Ausrücken, die gerade noch behoben werden konnte. Andererseits hatte der Minister mit einem Werkstattleiter gesprochen und eine Liste an benötigtem Werkzeug und Veränderungen angefordert, an der G. jetzt schreibt. Klar war der Besuch des Ministers eine reine Show, letztlich bedeutungslos und doch auch nicht. Hätte G. mit dem Minister sprechen können? Es sind diese Tage, an denen G. sich verletzlich, dumm und ungeschickt fühlt. Er hat den Besuch des Innenministers verpasst, um Linux auf seinem Rechner zu installieren und mit GIMP herumzuspielen. Er ist nicht mit zum Einsatz gefahren, weil er im Büro saß. Beides besitzt im globalen Zusammenhang betrachtet eine Bedeutung in der Nähe von Null. Doch G. stört es, und ihm Augenblick zwar sehr. Er hat ein Weltwärts-Ziel verfehlt, nämlich, sich ins Team zu integrieren. Er hätte auf dem Hof stehen sollen, dem Minister zuhören sollen, er hätte sehen sollen und gesehen werden. Stattdessen saß er am Schreibtisch und installierte ein Icon Theme. Er hatte ein persönliches Ziel verfehlt, Erlebnisse zu sammeln und Erfahrungen zu machen und hatte stattdessen auf einen Bildschirm gestarrt. Klar kann man das erklären. Die neue Freiwillige war in der vorigen Nacht angekommen und G. hatte den fehlenden Schlaf noch nicht aufgeholt. Er war müde und matschig im Kopf. Andererseits ist das auch eine mittelmäßige Erklärung und G. will nicht mittelmäßig sein. Gestern war er wie auf Wolken, diskutierte mit Freunden, hatte die Welt im Griff. Heute hatte er das Gefühl, dass ihm die Welt davongerannt war, während er Erbsen gezählt hatte. Nicht dass dies von großer Tragik wäre. Ein Haus wird aus vielen Steinen gebaut. Wenn einer porös ist, bringt das noch wenig zum Einsturz.Ein Jahr hat 365 Tage.  Andererseits verlangt jeder Stein, jeder Tag Aufmerksamkeit und G. merkt immer wieder, dass auf das Gefühl der Größe und Unangreifbarkeit allzu rasch Ernüchterung folgt, wenn man zu lange wartet und die Augen und Ohren nicht offen hält.

G. sitzt im Büro und beschließt, sich nicht mehr zu sehr zu ärgern. Er hat heute seinen Dienst nicht besonders gut erledigt, ja. Jetzt sind aber noch zwei Stunden übrig, in denen G. tatsächlich einen brauchbaren Materialplan erstellen und den Weltwärts-Bericht beginnen kann. Und jeder Tag ist eine neue Chance, sich zu bewähren. Fehler werden wieder passieren. Und es wird wieder die Gelegenheit geben, aus ihnen zu lernen und es besser zu machen. Es ist Zeit für eine Pause. Wochenende. Vielleicht trifft er A. noch einmal, bevor sie nach Hause fliegt. Er würde sich gerne noch ein bisschen mit ihr unterhalten.

G.: Back to work

Mittwoch, der 6. Januar

G. hatte seinen dritten Arbeitstag seit dem Urlaub. Wehmütig dachte er, als um sechs Uhr (oder genaugenommen 6.20 Uhr, aber 6.00 klingt martialischer) der Wecker klingelte, dass in Bayern heute Feiertag wäre. Er stand auf, duschte sich, trank ein Glas Wasser und suchte sein Zeug zusammen, wobei er den Büroschlüssel neben der Kamera vergaß, die er ans Ladegerät ansteckte

Diesen Missstand bemerkte er auf der Feuerwache. Dort half er beim Fahrzeugcheck und stellte fest, dass er wohl im ersten emotionalen Tief seines Aufenthaltes war. Die unqualifizierten Feuerwehrleute gingen ihm an diesem Morgen tierisch auf die Nerven, er konnte kaum lachen, als einer von ihnen versuchte, eine Sauerstoffflasche, auf der noch ein Blindstopfen war, noch dazu in der falschen Drehrichtung an die Rückenplatte des Atemschutzgerätes zu schrauben. Er fragte ihn lediglich leise, um ihn nicht zu demütigen, wie viele Monate er schon hier arbeitete. Ein Jahr, antwortete der Feuerwehrmann leicht unfreundlich. Ob Gs. schlechte Laune damit zu tun hatte, dass er den Büroschlüssel vergessen hatte, also einen absoluten Anfängerfehler gemacht hatte? Mit Sicherheit nicht. Also fuhr G. noch einmal nach Magomeni, holte den Schlüssel, ließ beim Fahrradhändler den Steuersatz seines am Vortag erworbenen Fahrrads festziehen und kehrte auf die Wache zurück. Dort suchte er den Control Room auf, um sich aus einer Abstellkammer einen alten Computer zu beschaffen, der wenigstens im Büro wieder selbständige Rechnerarbeit ermöglichen sollte. Überraschenderweise war der Vorbesitzer des Rechners bereits in Rente gegangen, sodass G. ohne Gegenwehr das Gerät mitnehmen konnte. Als er zur Werkstatt kam, um den Rechner zu testen, sah er, dass einige Techniker im Begriff waren, einen Riss an der Tür des großen Löschfahrzeugs zu schweißen. Nachdem außerdem ein Ersatzfahrzeug auf der Wache bereitstand, sah G. seine Chance gekommen, das defekte Blaulicht zu überprüfen. Als er gerade mit dem passenden Torx-Schraubenzieher ankam, ging der Alarm los.

G. rannte ins Büro und zog sich um. Als er zum Auto kam, hatte sich vor diesem bereits eine Schlange gebildet, da die drei Sitzplätze auf acht Feuerwehrleute verteilt werden müssen. Nachdem aber elf warteten, hatte G. zusammen mit zwei Kollegen das Nachsehen. Voller Zorn machte er sich auf die Suche nach dem Wachleiter, um ihn auf den Missstand anzusprechen. Er traf nur dessen Assistenten an. G. hat ein Problem an seinem Kiswahili bemerkt: Wenn er wütend ist, funktioniert der Nachschub an Vokabeln schlecht. Nach einigem Hin und Her wurde schließlich ein Volunteer (so etwas wie ein Praktikant mit Option auf eine Feuerwehrmann-Karriere) beauftragt, G. mit einem Motorrad an den Einsatzort zu bringen. Dieser war dann tatsächlich spannend, denn es handelte sich um das Hauptquartier der Polizei. Die Angestellten waren bereits in den Hof evakuiert, das Löschfahrzeug stand einsam herum, kein Feuerwehrmann zu sehen. G. rannte in den vierten Stock, wohin man ihn wies. Dort war Rauchgeruch bemerkbar. In einem Serverraum standen die meisten Feuerwehrleute, ein paar Polizisten und ein Techniker auf einer Leiter im Licht einer Handytaschenlampe und blickten sorgenvoll unter die abgenommene Deckenverkleidung, wo sich ein Kabelbrand ereignet hatte, den die Büroarbeiter aber schon vor dem Eintreffen der Feuerwehr gelöscht hatten. G. bat die Polizisten nach draußen, da es schon ziemlich giftig roch. Er fragte seine Kollegen, warum sie keine Atemschutzgeräte und allgemein gar keine Ausrüstung mit nach oben gebracht hatten, während sie alle zuschauen gingen. Er hatte immer noch schlechte Laune. Diese besserte sich, als er sein Handy zückte, um ein paar Schnappschüsse aufzunehmen. Das war immerhin ein Vorteil an seinem langsamen Transport gewesen: Er hatte Zeit, sein Handy zu holen, nachdem die Kamera, die sich in der Brusttasche seiner Einsatzjacke befände, zu Hause am Ladegerät hing. Dann kehrten G. und der Volunteer zur Wache zurück.

Dort angekommen, erzählte M., der Cheftechniker, dass R. aus dem Dogodogo-Center angerufen habe. Sie hätte einen Laptop übrig, wenn G. eine Transportmöglichkeit hätte, könne er ihn abholen. G. rief den Chef der Feuerwachen in Dar es Salaam, I., an und fragte ihn nach einem Auto. I. versprach, eines zu schicken. Kurze Zeit später kam tatsächlich ein Transporter der Wache in Lugalo (Norden von Dar Es Salaam), die allerdings erst von ihrer Mission überzeugt werden mussten. Nach einer Überredung von I. ging es los. Sie warteten noch ewig an einem Laden, wo sie versuchten, unter großem Lärm die Abdeckung der Hupe wieder auf dem Lenkrad zu befestigen, was ihnen auch schließlich gelang. Dann fuhren sie zur Wache in Lugalo, luden das Personal ab und weiter ging es zum Dogodogo-Center, einer Ausbildungsstätte für Straßenkinder. Nach einem Telefongespräch mit B., der dem Fahrer den Weg beschrieben hatte und zehn Minuten Fahrt über eine ländliche Staubpiste kamen sie an. R. begrüßte G. am Tor und gab ihm den Computer. Die Kinder grüßten G. und R. mit der Respektsform „Shikamoo“, was soviel wie „Ich küsse deine Füße“ bedeutet. In dieser Anhäufung und Selbstverständlichkeit hatte G. diesen Gruß noch nicht erlebt. Aber ja, wenn man groß wird, ist man aus der Perspektive von Kindern wohl ein Riese. Ein paar Abkürzungen später erreichten sie wieder die Wache. G. bedankte sich herzlich und bot dem Fahrer Trinken an, dass dieser aber höflich ablehnte. Alsdann machte sich G. auf den Heimweg. Er aß ein Mangomüsli, sicherte endlich seine Bilder und ging joggen. Seine Route führte ihn durch ein abgerissenes Slum in einer Hochwasserzone, in dem die Menschen die gerade die Reste ihrer Häuser zusammensuchen, um wegzuziehen. Das Ausmaß an Umweltverschmutzung durch Müll war erschreckend, die Freundlichkeit der Bewohner dagegen rührend und für G. als Eindringling unerwartet. Dass es sich um eine Hochwasserzone handelte, merkte er, als er trotz geringen Niederschlags ein Stück überfluteten Pfades entlangwaten musste, was er nach längerem Zögern widerwillig tat. Zu Hause angekommen, duschte er gründlich und installierte ein Linux-Betriebssystem auf dem neuen Laptop. Dann begrüßte er S. und dessen Familie, die aus Arusha zurückgekommen waren. Anschließend machte er sich ein Auberginen-Sandwich und packte seine Sachen. Um zwei Uhr zwanzig in der Nacht würde der Fahrer kommen. Zeit, die neue Freiwillige L. vom Flughafen abzuholen.

Your Computer as you have never seen it before

Nachdem wir ein schönes Weihnachtsfest am Strand gefeiert haben, habe ich heute meinen ersten Urlaubstag genossen, mit viel Organisationskram, um morgen nach Sansibar aufzubrechen. Schnorchel und Hängematte sind im Gepäck. Unter anderem war ich auch beim Apple-Store, wo die Techniker meinem Macbook einen Defekt der Hauptplatine diagnostiziert haben. Nun habe ich einen Aluminiumklumpen im Regal liegen, der auf seine Rückführung nach Deutschland wartet.

Zu Hause erfolgte dann die Standard-Prozedur für defekte Rechner, Forensik. Doch ich konnte den Defekt nicht finden. Zu klein die Komponenten, zu komplex die Platine. Doch es ist auch interessant, wenn die Apple-Produkte entmystifiziert und nackt vor einem liegen. Eine Apple-Experience der neuen Art. Platinen sehen überall gleich aus. Die ganzen aufgelöteten Komponenten wirken wie eine kleine Stadt, eine kleine Stadt, in der Stromausfall herrscht.

DVD-Laufwerk
DVD-Laufwerk
Ethernet-Port
Ethernet-Port
Kühlelement
Kühlelement
Arbeitsspeicher-Steckplatz
Arbeitsspeicher-Steckplatz
Gehäuse
Gehäuse

Jetzt ist es spät. Ich habe meine Sachen zusammengesucht. Einen Ersatzrechner werde ich dieser Tage bestellen. Hat jemand zufällig ein Lenovo Thinkpad zu Hause, das er oder sie nicht mehr braucht? Sonst kaufe ich eins auf Ebay. Diese Geräte werden immerhin auf der ISS eingesetzt, da können sie mit Dar es Salaam vielleicht gerade so klarkommen. Das einzige, was mir fehlen wird, ist Apples eifrige Autokorrektur, die es bei Opensuse nicht gibt. Da muss ich wieder auf meine Finger aufpassen. Dafür habe ich aber die Gnome-Benutzeroberfläche, die um Längen innovativer ist als die von OS X. Genug des Sinnierens über den Weltenwechsel. Unix bleibt Unix.

Morgen um fünf klingelt der Wecker, dann ist es Zeit, zur Fähre zu gehen. Der Empfehlungsbrief wegen der reduzierten Tickets hat natürlich mal wieder versagt. Vielleicht schafft es das Ministerium ja, die Aufenthaltserlaubnis auszustellen, bis wir wieder abreisen. Aber das machen die schon. Wir haben jetzt ja Magufuli. Der säubert die Straßen.

Hilferuf: Digitaler Notstand

Policemen at National Stadium
Policemen at National Stadium

Es gibt zahlreiche Probleme, die sich nicht durch Licht und Schall bemerkbar machen, sondern gerade durch ihre Abwesenheit. Als ich heute Abend mein Macbook aus dem Ruhezustand wecken wollte, musste ich feststellen, dass sich dieser still und leise aus dem Betriebsdienst verabschiedet hatte und nicht mehr aufwachen wollte. Die kurze Liste an Troubleshooting-Möglichkeiten war bald abgearbeitet. Auch der zu Hilfe geeilte Informatiker, unser Mentor Daniel, konnte dem Computer kein neues Leben einhauchen. Ein Abnehmen der Unterseite des Laptops führte zu keiner Fehlerdiagnose, sodass ich mich gezwungen sehe, an diesem Mittwoch um 00.37 Uhr ostafrikanischer Zeit den digitalen Notstand auszurufen. Der Protagonist G. und die Bildstrecken sind in Gefahr. Grundlegende Funktionen des digitalen Alltags werden dagegen von meinem Smartphone abgedeckt. Dieses eignet sich aber kaum zur Bearbeitung des Blogs, sodass ich nun meine Bitte um Unterstützung in die Welt und an meine Leser schicke:

Wenn ihr einen Laptop habt, den ihr nicht mehr braucht oder den ihr verkaufen wollt, habe ich großes Interesse. Der Transport lässt sich bewältigen. Gebraucht und am besten möglichst günstig deswegen, weil Verluste in diesem Einsatz zu erwarten sind. Leider behindern sie dann trotzdem stark den Alltag. Mir hat G. als Figur gefallen und es hat mir große Freude bereitet, an ihm zu stricken. Wenn ihr G. helft, aus der angesichts von Touch-Tastaturen drohenden Eiszeit aufzuwachen, werden er und sein Autor sich sehr freuen.

Warum suche ich in Deutschland, 8500 Kilometer entfernt, nach einem Computer? Tansania ist eine digitale Wüste. Wer Elektronik sucht, bekommt schlechte Ware zu überteuerten Preisen. Deutschlands Dachböden und Keller dagegen ächzen unter der Last abgelegter Rechenhardware. Wenn ein Gerät entbehrlich ist, werde ich mich darum kümmern, dass es seinen Weg nach Dar Es Salaam findet. Als Belohnung warten Bilderstrecken mit Kühen am Strand und Gs. Erlebnisse mit den Stromdieben.

PS: Linux-DVD ist vorhanden, ebenso eine funktionsfähige Mac OS X-Festplatte. Dazu gesellen sich Ideen, Bastelbereitschaft und die Überzeugung, dass G. wieder neue Abenteuer erleben wird, spätestens, wenn sein Autor aus Sansibar zurück ist.

Wenn ihr mir antworten mögt, freue ich mich über eine E-Mail an fvl.mobile@mnet-mail.de.

G.: Staub

Staub-Cover

Manchmal sind gesprochene Worte besser als geschriebene, um Eindrücke zu vermitteln, denkt sich G., der ewig geschlafen hat und öffnet seinen Laptop. Um heute einen Rap-Track aufzunehmen. Der Titel des Textes ist „Staub“, geschrieben im Bus auf der Rückfahrt von Bagamoyo, wo er einen Freund besucht hat. Natürlich liebt G. das Dramatisieren, die Wirklichkeit in Dar es Salaam beschreibt sein Text nicht. Dass Staub ein Charakteristikum der Stadt ist, kann man aber auch nicht in Abrede stellen und so baut sich G. aus Apple-Loops und dem integrierten Mikrofon eine Staub-Welt.

PS: Mit Kopfhörern oder einer soliden Musikanlage klingt das Lied am besten, sonst ist der Beat etwas matt. Low-Budget-Podcast eben.

 

Ich: Will Europa?

Die Perspektive aus der Distanz erlaubt einem, andere Blickwinkel auf die europäische Heimat einzunehmen. Ich behaupte keinesfalls, dass diese Blickwinkel besonders enthüllend sind oder große Objektivität generieren. Allerdings muss ich sagen, dass ich aus meinem Kontext beschämt und enttäuscht darüber bin, wie die europäische Politik und Teile der europäischen Öffentlichkeit auf die aktuellen Herausforderungen aus Flüchtlingskrise und Terrorismus reagieren. Und in der Tat glaube ich, ob innerhalb oder außerhalb von Europa, dass einige der Fehler und deren Verursacher klar identifizierbar sind und es Debatten gibt, die geführt werden müssen. Deshalb schreibe ich diesen Kommentar, ohne G. dazwischenzuschalten, sondern aus Jakob Lindenthal aus Dar es Salaam, Tansania. Er hat nicht den Anspruch der Vollständigkeit, sondern ist eher als Bestandsaufnahme zu sehen. Manche Fäden sind noch lose, doch wie sollte man sie weiterspinnen, wenn sie unsichtbar blieben?

Will Europa?

Als die Attentäter in Paris am 13. November 2015 das Feuer auf Zuhörer eines Konzerts eröffneten, schossen sie nicht nur auf Menschen, nein, sie schossen direkt auf Europas Identität. Doch Europa ließ nicht auf Antwort warten. Europa zeigte Stärke. Europa schlug zurück. Zunächst verbal, dann militärisch. Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy erklärte den Islamisten den „Totalen Krieg“, geistig an seiner Seite stand Marine Le Pen, deren rechtsextreme Front National schon lange vor den Gefahren der Anwesenheit von Muslimen in Frankreich warnt. Und dann kam die militärische Offensive. Brüssel wurde vom Notstand lahmgelegt, in ganz Europa verhaftete die Polizei Verdächtige und Kampfjets starteten, um Basislager der Terroristen in Syrien zu zerstören. Erinnerungen an die Zeit des RAF-Terrors wurden wach, Kriegsszenarien durchgespielt. Es war und ist Krieg. Ein Krieg, den man mit klassischen Mitteln führen kann, von Hauptquartieren aus, mit Spezialeinheiten, Hubschraubern und Luft-Boden-Raketen.

Doch ist es ein Krieg, der zeitgemäß ist? Ein Krieg, der zu geführt werden sich lohnt? Sicherlich, die Anschläge in Paris waren unfassbar grausam und ein derartiger Angriff auf Europas Werte kann niemals ohne Konsequenzen bleiben, auch militärisch nicht, da die Bannung einer akuten Gefahr letztlich immer über die mittel- und langfristigen Ziele siegt. Dennoch muss man sich fragen, ob der Krieg, der geführt und fortgesetzt wird, zeitgemäß ist und besonders, ob er als augenscheinlich recht einsames Mittel der Gefahrenbekämpfung einen Sinn hat. Ist es nicht fraglich, ob pure Gewalt nicht nur neue Gewalt erzeugt, auch bei denen, die sie als erste ausgeübt haben? Eine europäische Gesellschaft, die ständig gefühlt nach außen und gegen die Fremden im Inneren in Abwehrstellung steht, wird verhärten in ihrem Ergötzen an der eigenen Kraft. Und sie wird kaum bemerken, wie langsam ihr Kern verblasst, bis nur noch ein hohles Gerüst, eine Hülle dasteht, in denen die Dämonen des Hasses, der Angst und der Vergeltung wohnen. Was Europa auszeichnet und es groß gemacht hat, sind mutige Menschen, Menschen mit Ideen, Menschen, die eine wache und kritische Bürgerschaft bilden. Menschen, die sich an der Politik beteiligen und Menschen, die sich nicht mit der erstbesten, einfach erscheinenden Lösung zufriedenstellen lassen. Vielleicht sind diese Menschen immer eine Minderheit gewesen, doch sie waren eine mächtige Gruppe. Sie waren eine mächtige Gruppe. Immer lauter hört man in den Straßen und in den Debatten den Ruf nach Härte und nach Führern, nach der Abwehr alles Fremden. Es wird mehr Repression, mehr Aktionismus gefordert im selbstgerechten Gewissen, dass man zur guten, weißen Seite gehört, die vom Durchgreifen der starken Hand, ob es nun Putins, Bachmanns oder Le Pens sein mag, in jedem Fall profitieren wird. Teile der Öffentlichkeit und der Politik rufen zur friedlichen Beilegung der Konflikte auf, im Wissen, dass die Amerikaner im Zweifelsfall Soldaten, Geheimdienste und Kampfdrohnen haben, auf die man sich verlassen kann, wenn es wirklich brenzlig wird. Davor kann man sich öffentlich von den traditionellen Alliierten distanzieren und ihnen die hohen zivilen Verluste ihrer Einsätze vorwerfen. Über die Unausweichlichkeit des Bluts an den eigenen Händen wird nachgedacht, aber kaum gesprochen. Zu groß die Angst, dass das sorgsam gehütete Trio aus Pazifismus, Frauenrechten und Umweltschutz, das seit den siebziger Jahren gepflegt wird, den Kräften der Gegenwart ausgesetzt werden könnte. Die Tabus der politischen Mitte werden von jenen, die sich mit ihren scheinbar weltrettenden Lösungen zu profilieren suchen, schamlos ausgenutzt. Die, welche aus ihrem Nachdenken mit etwas mehr Mut vielleicht Handlungen für eine langfristige Veränderung der Lage anstoßen könnten, werden je nach Couleur als Landesverräter, Feiglinge oder Rassisten bezeichnet. Doch der Lärm der „Enthüller“ kann nicht verbergen, dass ihre scheinbar visionären Rezepte dumm und plump sind, genauso wie ihre Protagonisten, die sich als Emporkömmlinge einer geistigen Ochlokratie im neuen Rampenlicht sonnen. Wer Marine Le Pen schon sieht, dem sollte eigentlich klar sein, dass von ihr nicht mehr als populistisches Gebell und Schminktipps für Frauen über fünfzig zu erwarten sind. In der deutschen AfD gab es anfänglich möglicherweise eine Denker-Fraktion, die bedacht und ergebnisoffen diskutieren wollte, inzwischen sind ihre Mitglieder jedenfalls dem Pegida-Pöbel gewichen, der sich an seiner eigenen völkischen Genuinität erlabt und sich geistig unabhängig wähnt, während er den Rattenfängern des Nationalsozialismus eifrig hinterhertrabt und eine Rückbesinnung auf alte Werte fordert.

Die Frage ist jedoch, welche Werte man als alt bezeichnen möchte. Es sind sicher nicht die Weihnachtslieder, deren Texte die Demonstranten nicht beherrschen oder das Sauerkraut, das man bei Aldi in der Dose kaufen kann. Nein, eigentlich ist die Rückbesinnung auf die alten, echten Werte gut. Europa ist seit der Neuzeit ein Kontinent der Ideen und der Macher gewesen. Der Humanismus begründete das Vertrauen in den menschlichen Geist zur Lösung von Problemen und die Gewissheit, dass die Fragen der Menschheit nur von ihr selbst beantwortet werden können. In Europa wohnten Menschen, die so frei denken und handeln wollten, dass sie sogar bereit waren, ihr Land zu verlassen und wie die Amerika-Auswanderer ihr Glück dort zu versuchen, wo ihnen die Freiheit größer erscheint. Denen Selbstbestimmung so wichtig ist, dass sie eine Demokratie entwickelt haben, deren Modell aus den USA reimportiert wurde und in seinen Variationen laut Winston Churchill zwar eine schlechte, doch immerhin die beste Staatsform sei, die es gäbe. Eine Staatsform, die nach wie vor nicht fertiggestellt ist. An ihr weiterzubauen, erfordert Besonnenheit und Mut. Und die Bereitschaft zu Leistung und Selbstanspruch. Europa steht an der Wegscheide. Wenn die Dummen gewinnen, wird sich Europa einmauern und geistig stehenbleiben, wenn die letzten Klugen gehen. Die Zahl der Anschläge wird durch mehr Repression und militärischen Krafteinsatz nicht sinken und die Gesellschaft durch mehr Hass gegenüber Nichteuropäern keineswegs wohlhabender und zufriedener werden, im Gegenteil. Dieser Dunkelheit entgegen stehen die positiven Eigenschaften des Menschen, deren Entfaltung im Europa der alten Werte wohl einen kaum zu übertreffenden Stellenwert besitzt. Mit Debatte, Demokratie und Demut, gepaart mit Leistungsbereitschaft und Intelligenz, wird Europa auch die aktuelle Krise meistern. Dabei wird es starke und mutige Anführer brauchen. Wenn Europa klug ist, wird es diese Anführer nach ihren geistigen Fähigkeiten und nicht nach ihrem Willen, Führer zu spielen, wählen, auch nicht nach ihrem Geschick, Tabus zu umgehen. Härte wird sich nicht vermeiden lassen. Ohne Solidarität mit Flüchtlingen und Bündnispartnern wird es ebenfalls nicht funktionieren. Der Berg der Herausforderungen und Widersprüche ist groß. Doch Europa hat die Menschen, die ihn bewältigen können. Wenn sie es wollen.

G.: Der erste Prototyp

Es ist Sonntag, der 2. Advent. G. ist am Morgen nach der Nikolausparty in Ilala wieder nach Magomeni aufgebrochen, weil er sich mit M. von Africraft treffen wollte. G. ist jetzt nämlich zum Produktdesigner aufgestiegen und gestaltet Recycling-Gegenstände für Africraft, eine NGO zur Unterstützung lokaler Handwerker, mit. Das Ganze verzögerte sich aber und so beschloss G., einen kleinen Mittagsschlaf zu halten. Dann machte er sich ein paar Pfannkuchen (eintönig, dachte er sich, immer dieser fettige Teig, aber leider legendär einfach und so lecker). Überhaupt war ihm gestern in der Nierengegend so eine Speckschicht aufgefallen. Das gehörte wohl auch zum Erwachsenwerden dazu. Die Spargelzeit wäre dann vorbei. Egal, zumindest jetzt.  Zum Essen hörte G. das Album „Das Leben ist grausam“ von den Prinzen, 90er-Jahre pur. G. war sehr zufrieden. Dann wollte er losfahren. Den Schlüssel hätte er bei den Nachbarn deponieren wollen, doch die waren nicht da, sonst hätte er sich auch noch mit A. für einen Kinobesuch verabreden können. Naja, dachte G., dann gebe ich den Schlüssel eben dem Kioskbesitzer, der ist auch vertrauenswürdig. Statt seiner waren aber nur zwei dubiose Aushilfen im Laden. Den Torschlüssel zu verstecken, kam nicht in Frage, da man als Ausländer in einem traditionellen Viertel fast immer beobachtet wird, nicht einmal argwöhnisch, aber in der Öffentlichkeit ist man in Magomeni einfach wirklich öffentlich. Also ging G. wieder ins Haus, packte den Schlüssel in ein Stück Zeitungspapier, nahm noch einige weitere ablenkende Gegenstände (ein Stück Zimtbaumrinde und irgendeine tropische Nuss) und stopfte alles in eine Plastiktüte, die er der Tochter des Schneiders anvertraute und sie bat, das Päckchen Samuel auszuhändigen. Sie versprach es und G. machte sich auf den Weg, verspätet wie immer. Unterwegs dachte er noch nach, ob er den Schlüssel vielleicht in einem Hefebrötchen hätte verstecken sollen, das wäre noch unauffälliger gewesen, aber dann kam er sich paranoid vor. Außerdem musste er sich konzentrieren, um mit seinem Fahrrad nicht überfahren zu werden. Als er schließlich bei Africraft ankam, war M. noch nicht da, aber ein Arbeiter öffnete ihm und G. begann, an seinem Prototyp für den Anti-Diebstahl-Rucksack mit dem Codenamen ATB DSM (Anti-Theft Bag Dar Es Salaam) zu arbeiten. Dazu konnte er auf eine chinesische Industrienähmaschine zurückgreifen, die mit atemberaubender Geschwindigkeit alles zusammennähte, was ihr unter die Nadel kam. Zumindest, wenn der Unterfaden gereicht hätte, den G. wegen seiner Faulheit beim Aufwickeln zweimal tauschen musste. Zwischendurch kam M. und brachte G. Wasser, sie unterhielten sich kurz, dann musst M. wieder los zum Einkaufen. Nach gut drei Stunden war das Behältnis dann fertig. Der Schneider hätte es sicher besser gekonnt, aber G. hatte ja die Idee gehabt und für die Erklärung einzelner Nähte reichte sein Kiswahili doch nicht ganz. Als dann immer mehr Moskitos G. das Leben zusetzten, fotografierte er im Licht der Neonröhre noch sein Werk und brach wieder auf. Der Arbeiter war gerade dabei, auf einem Feuer Ugali (Maisbrei) zu kochen, aber G. hatte richtigen Hunger und keinen, den er mit Stärkemehl stillen wollte.

Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander und G. fuhr los. Den ganzen Weg über dachte er darüber nach, wie er den Rucksack optimieren könne, da der Prototyp noch keineswegs marktreif war. Zu viel Produktionsaufwand bei zu wenig Präzision und Funktion sind leider keine Verkaufsargumente. Auf der Kawawa Road hatte er dann die Idee, die Seitenteile des Rucksacks einzeln zu fertigen und durch Nähte zu verbinden, um die Zugänglichkeit zu den einzelnen aufzunähenden Gurten zu verbessern. Andererseits würde das die Gefahr bergen, dass das Material ausfranst, was bei den verwendeten alten Zement- und Reissäcken kritisch ist. Und der Boden wäre schwächer. Aber wie viel schwächer. Über diese Gedanken hätte G. fast einen Bus gerammt. Auf jeden Fall würden sie Gurte brauchen, denn ein Tragesystem ohne Gurte wäre umständlich und böte keine Vorteile. Irgendwann schloss G. die Akte Rucksack in seinem Kopf. Er brauchte noch Mangos, irgendwelche pikanten Mangos zum Abendessen wären definitiv sehr lecker. Und Zucker brauchten sie auch. G. kaufte beides ein. S. war auch schon zu Hause. L. war auch da, zum Wäschewaschen. Mit dem Schlüssel hatte alles funktioniert. G. war insgesamt überrascht, dass S. angesichts der unsicheren Übergabestrategie nichts gesagt hatte. Vielleicht hätte er doch den Schlüssel in dem Brötchen verstecken sollen? Stattdessen aß der das Brötchen mit Kakao als Nachtisch zu seinem Mangogemüse. Dann loggte G. in seinen Blog ein. Der letzte Eintrag war schon fünf Tage her. Himmel, wie die Zeit vergeht. Schon zehn Uhr abends. Morgen würde wieder der Alltag beginnen. Zu dem bald vielleicht mehr Africraft und mehr Prototypen gehören würden.

ATB DSM Frontseite
ATB DSM Frontseite
ATB DSM Rückseite