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Ich: Will Europa?

Die Perspektive aus der Distanz erlaubt einem, andere Blickwinkel auf die europäische Heimat einzunehmen. Ich behaupte keinesfalls, dass diese Blickwinkel besonders enthüllend sind oder große Objektivität generieren. Allerdings muss ich sagen, dass ich aus meinem Kontext beschämt und enttäuscht darüber bin, wie die europäische Politik und Teile der europäischen Öffentlichkeit auf die aktuellen Herausforderungen aus Flüchtlingskrise und Terrorismus reagieren. Und in der Tat glaube ich, ob innerhalb oder außerhalb von Europa, dass einige der Fehler und deren Verursacher klar identifizierbar sind und es Debatten gibt, die geführt werden müssen. Deshalb schreibe ich diesen Kommentar, ohne G. dazwischenzuschalten, sondern aus Jakob Lindenthal aus Dar es Salaam, Tansania. Er hat nicht den Anspruch der Vollständigkeit, sondern ist eher als Bestandsaufnahme zu sehen. Manche Fäden sind noch lose, doch wie sollte man sie weiterspinnen, wenn sie unsichtbar blieben?

Will Europa?

Als die Attentäter in Paris am 13. November 2015 das Feuer auf Zuhörer eines Konzerts eröffneten, schossen sie nicht nur auf Menschen, nein, sie schossen direkt auf Europas Identität. Doch Europa ließ nicht auf Antwort warten. Europa zeigte Stärke. Europa schlug zurück. Zunächst verbal, dann militärisch. Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy erklärte den Islamisten den „Totalen Krieg“, geistig an seiner Seite stand Marine Le Pen, deren rechtsextreme Front National schon lange vor den Gefahren der Anwesenheit von Muslimen in Frankreich warnt. Und dann kam die militärische Offensive. Brüssel wurde vom Notstand lahmgelegt, in ganz Europa verhaftete die Polizei Verdächtige und Kampfjets starteten, um Basislager der Terroristen in Syrien zu zerstören. Erinnerungen an die Zeit des RAF-Terrors wurden wach, Kriegsszenarien durchgespielt. Es war und ist Krieg. Ein Krieg, den man mit klassischen Mitteln führen kann, von Hauptquartieren aus, mit Spezialeinheiten, Hubschraubern und Luft-Boden-Raketen.

Doch ist es ein Krieg, der zeitgemäß ist? Ein Krieg, der zu geführt werden sich lohnt? Sicherlich, die Anschläge in Paris waren unfassbar grausam und ein derartiger Angriff auf Europas Werte kann niemals ohne Konsequenzen bleiben, auch militärisch nicht, da die Bannung einer akuten Gefahr letztlich immer über die mittel- und langfristigen Ziele siegt. Dennoch muss man sich fragen, ob der Krieg, der geführt und fortgesetzt wird, zeitgemäß ist und besonders, ob er als augenscheinlich recht einsames Mittel der Gefahrenbekämpfung einen Sinn hat. Ist es nicht fraglich, ob pure Gewalt nicht nur neue Gewalt erzeugt, auch bei denen, die sie als erste ausgeübt haben? Eine europäische Gesellschaft, die ständig gefühlt nach außen und gegen die Fremden im Inneren in Abwehrstellung steht, wird verhärten in ihrem Ergötzen an der eigenen Kraft. Und sie wird kaum bemerken, wie langsam ihr Kern verblasst, bis nur noch ein hohles Gerüst, eine Hülle dasteht, in denen die Dämonen des Hasses, der Angst und der Vergeltung wohnen. Was Europa auszeichnet und es groß gemacht hat, sind mutige Menschen, Menschen mit Ideen, Menschen, die eine wache und kritische Bürgerschaft bilden. Menschen, die sich an der Politik beteiligen und Menschen, die sich nicht mit der erstbesten, einfach erscheinenden Lösung zufriedenstellen lassen. Vielleicht sind diese Menschen immer eine Minderheit gewesen, doch sie waren eine mächtige Gruppe. Sie waren eine mächtige Gruppe. Immer lauter hört man in den Straßen und in den Debatten den Ruf nach Härte und nach Führern, nach der Abwehr alles Fremden. Es wird mehr Repression, mehr Aktionismus gefordert im selbstgerechten Gewissen, dass man zur guten, weißen Seite gehört, die vom Durchgreifen der starken Hand, ob es nun Putins, Bachmanns oder Le Pens sein mag, in jedem Fall profitieren wird. Teile der Öffentlichkeit und der Politik rufen zur friedlichen Beilegung der Konflikte auf, im Wissen, dass die Amerikaner im Zweifelsfall Soldaten, Geheimdienste und Kampfdrohnen haben, auf die man sich verlassen kann, wenn es wirklich brenzlig wird. Davor kann man sich öffentlich von den traditionellen Alliierten distanzieren und ihnen die hohen zivilen Verluste ihrer Einsätze vorwerfen. Über die Unausweichlichkeit des Bluts an den eigenen Händen wird nachgedacht, aber kaum gesprochen. Zu groß die Angst, dass das sorgsam gehütete Trio aus Pazifismus, Frauenrechten und Umweltschutz, das seit den siebziger Jahren gepflegt wird, den Kräften der Gegenwart ausgesetzt werden könnte. Die Tabus der politischen Mitte werden von jenen, die sich mit ihren scheinbar weltrettenden Lösungen zu profilieren suchen, schamlos ausgenutzt. Die, welche aus ihrem Nachdenken mit etwas mehr Mut vielleicht Handlungen für eine langfristige Veränderung der Lage anstoßen könnten, werden je nach Couleur als Landesverräter, Feiglinge oder Rassisten bezeichnet. Doch der Lärm der „Enthüller“ kann nicht verbergen, dass ihre scheinbar visionären Rezepte dumm und plump sind, genauso wie ihre Protagonisten, die sich als Emporkömmlinge einer geistigen Ochlokratie im neuen Rampenlicht sonnen. Wer Marine Le Pen schon sieht, dem sollte eigentlich klar sein, dass von ihr nicht mehr als populistisches Gebell und Schminktipps für Frauen über fünfzig zu erwarten sind. In der deutschen AfD gab es anfänglich möglicherweise eine Denker-Fraktion, die bedacht und ergebnisoffen diskutieren wollte, inzwischen sind ihre Mitglieder jedenfalls dem Pegida-Pöbel gewichen, der sich an seiner eigenen völkischen Genuinität erlabt und sich geistig unabhängig wähnt, während er den Rattenfängern des Nationalsozialismus eifrig hinterhertrabt und eine Rückbesinnung auf alte Werte fordert.

Die Frage ist jedoch, welche Werte man als alt bezeichnen möchte. Es sind sicher nicht die Weihnachtslieder, deren Texte die Demonstranten nicht beherrschen oder das Sauerkraut, das man bei Aldi in der Dose kaufen kann. Nein, eigentlich ist die Rückbesinnung auf die alten, echten Werte gut. Europa ist seit der Neuzeit ein Kontinent der Ideen und der Macher gewesen. Der Humanismus begründete das Vertrauen in den menschlichen Geist zur Lösung von Problemen und die Gewissheit, dass die Fragen der Menschheit nur von ihr selbst beantwortet werden können. In Europa wohnten Menschen, die so frei denken und handeln wollten, dass sie sogar bereit waren, ihr Land zu verlassen und wie die Amerika-Auswanderer ihr Glück dort zu versuchen, wo ihnen die Freiheit größer erscheint. Denen Selbstbestimmung so wichtig ist, dass sie eine Demokratie entwickelt haben, deren Modell aus den USA reimportiert wurde und in seinen Variationen laut Winston Churchill zwar eine schlechte, doch immerhin die beste Staatsform sei, die es gäbe. Eine Staatsform, die nach wie vor nicht fertiggestellt ist. An ihr weiterzubauen, erfordert Besonnenheit und Mut. Und die Bereitschaft zu Leistung und Selbstanspruch. Europa steht an der Wegscheide. Wenn die Dummen gewinnen, wird sich Europa einmauern und geistig stehenbleiben, wenn die letzten Klugen gehen. Die Zahl der Anschläge wird durch mehr Repression und militärischen Krafteinsatz nicht sinken und die Gesellschaft durch mehr Hass gegenüber Nichteuropäern keineswegs wohlhabender und zufriedener werden, im Gegenteil. Dieser Dunkelheit entgegen stehen die positiven Eigenschaften des Menschen, deren Entfaltung im Europa der alten Werte wohl einen kaum zu übertreffenden Stellenwert besitzt. Mit Debatte, Demokratie und Demut, gepaart mit Leistungsbereitschaft und Intelligenz, wird Europa auch die aktuelle Krise meistern. Dabei wird es starke und mutige Anführer brauchen. Wenn Europa klug ist, wird es diese Anführer nach ihren geistigen Fähigkeiten und nicht nach ihrem Willen, Führer zu spielen, wählen, auch nicht nach ihrem Geschick, Tabus zu umgehen. Härte wird sich nicht vermeiden lassen. Ohne Solidarität mit Flüchtlingen und Bündnispartnern wird es ebenfalls nicht funktionieren. Der Berg der Herausforderungen und Widersprüche ist groß. Doch Europa hat die Menschen, die ihn bewältigen können. Wenn sie es wollen.

Ein Gedanke zu “Ich: Will Europa?

  1. Emilia

    Jakob, wie erstaunlich dass ausgerechnet von so weit her eine Reflexionsansatz des hiesigen Geschehens kommt, den ich hier noch sehr schmerzlich vermisse. Denn in der privaten Debatte kommt der so lapidar durchgewunkene Bundeswehreinsatz erschreckend spät erst zur Sprache.
    Die Abstraktion eines solchen Krieges, der „so weit weg scheint“, mag einem die Dringlichkeit einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg verschleiern – das geht mir oft genauso – aber es ist mittlerweile mit materiellen realen Konsequenzen verbunden, die Folgen haben.

    Irgendwie scheint einenormes Anziehen der Überwachung, sogar im falle Belgiens die kurzzeitige Stilllegung eines ganzen Staates auf Geheiß der Geheimdienste, keinen wirklichen Aufschrei zu provozieren. Und da Jakob, mache ich mir wirklich ernsthafte Sorgen.

    Grüße aus einem Europa, das trippelnd am Scheideweg steht, wie du schon sagst.