Dienstag, 3. November: Wie jeden Morgen waren G. und S. ein wenig spät dran, doch sie kamen noch rechtzeitig. Rechtzeitig? Bisher haben sie kaum bemerkt, dass es einen absoluten Zeitpunkt gibt, den man als rechtzeitig bezeichnen könnte. Dieser ist höchstens dann, wenn man alle Personen, die man braucht, antrifft, um seine Anliegen durchzubringen. Das ist um 7 Uhr am Morgen eher selten der Fall. Trotzdem hatte G. also noch ein bisschen Zeit, um mit den Rekruten Fußball zu spielen, heute hat er sogar ein Tor geschossen, was ihn schon etwas stolz machte, da er immer noch mit dem buckligen Platz kämpft, der seine in Deutschland durch harte Arbeit erlernten Ballkünste immer wieder empfindlich schmälert. Anschließend sind G. und S. mit dem Rescue Team um den Platz gejoggt, die Sauerstoffflaschen umgeschnallt, um sich an das Gewicht zu gewöhnen. Danach haben sie erst einmal ausgiebig gefrühstückt, die Sekretärinnen hatten ihnen Toast und Ei bereitgestellt. Wunderbaren britischen Toast, der nach nichts schmeckt und sich auf 0,05 % seines Volumens reduzieren lässt, wenn man ihn zwischen Daumen und Zeigefinger etwas fester drückt. Ernsthaft, G. mag diesen Toast wirklich gerne. Und er ist den Sekretärinnen wahnsinnig dankbar, dass sie ihn und S. so fürsorglich behandeln. Da mag S. sagen, G. würde dauernd mit ihnen flirten, aber man kann doch sagen, was man möchte, ein solides Frühstück, meistens sogar mit heißem Tee, ist einiges wert. Anschließend haben sich G. und S. aufgemacht, um am Geldautomaten ihre Barvorräte aufzustocken, zumal S. sein Smartphone reparieren musste und es gleich anschließend bezahlen sollte. Also auf zum Bankautomaten der National Bank of Commerce (NBC) in der Tankstelle gegenüber. Die folgende Episode hat G. nun schon dreimal erlebt, jetzt aber soll sie in voller Länge beschrieben werden.
09.21 Uhr (fiktive Startzeit): G. schiebt seine Mastercard in den Automaten.
09.21 Uhr (gleich darauf): Der Automat sagt: Please wait.
09.23 Uhr: G. wartet.
09.24 Uhr: Der Wachmann des Automaten schaut G. fragend an. G. und er diskutieren verschiedene Möglichkeiten und beschließen, weiterhin zu warten.
09.29 Uhr: S. und der Wachmann unterhalten sich über tansanisches Kino, während G. weiterhin wartet.
09.30 Uhr: G. tippt die Servicenummer der NBC in sein Handy
09.31 Uhr: G. hat sich durch das Hotlineverzeichnis gewählt und wird mit einem schlecht Englisch sprechenden Sachbearbeiter verbunden.
Gesprächsinhalt: G. soll die Abbruchtaste drücken, was selbstverständlich nichts bringt, da keine Benutzeroberfläche geladen ist. Außerdem ist derzeit kein Servicetechniker verfügbar, G. soll seine Karte zurücklassen, die dann am Abend abgeholt wird. G. bedankt sich und legt auf.
09.33 Uhr: S. muss los, um sein Handy zur Reparatur abzugeben.
09.34 Uhr: G. ruft seinen Mentor D. an, der als Informatiker bei NBC arbeitet. D. verspricht, sich zu informieren und dann zurückzurufen.
09.35 Uhr: G. wartet.
09.36 Uhr: Der Bildschirm des ATM wird schwarz, dann erscheint die BIOS-Information, Windows XP startet. Der Automat wirft die Karte aus.
09.37 Uhr: G. verabschiedet sich vom Wachmann und begegnet S., der über die Straße zum Automaten zurücksprintet. Sie laufen zurück zur Wache.
Anmerkung: G. wurde vor seiner Abreise darin unterrichtet, wie man die eigene Berichterstattung überdenkt, um der Verbreitung von Klischees und rassistischen Vorurteilen entgegenzuwirken. Die Kreditkarten-Story möchte er keinesfalls als exemplarisches Beispiel für die marode tansanische Infrastruktur verstanden wissen.
Lediglich ärgert er sich ab und zu über Firmen, die offenbar auf essentiellen Gebieten sparen. Sämtliche drei Bankautomaten, die Gs. Mastercard bisher zum Absturz gebracht hat, stammten vom Hersteller NCR und ihr BIOS war 2004 zuletzt aktualisiert worden. Mit Windows XP waren sie auch für das heutige Internet völlig ungenügend ausgestattet, zumal der Support des Betriebssystems letztes Jahr ausgelaufen ist und es bei finanziellen Transaktionen nicht um Großmutters digitale Schnappschüsse geht. In den Grundzügen haben sich G. und S. schon überlegt, wie sie entweder mit Gs. Kreditkarte den Zahlungsverkehr in Dar Es Salaam lahmlegen werden (bis auf die Wincor-Nixdorf-Automaten von Equity Bank im Quality Center, die bisher reibungslos liefen) oder ihr Budget mit einem selbst geschriebenen Automaten-Code aufbessern, den sie beim Systemstart von Windows XP mit einbinden.
Nicht die manchmal schwierigen technischen Verhältnisse in Tansania setzen G. zu. Die ist er auch von zu Hause gewöhnt. Er versteht vielmehr nicht oder noch nicht, warum an vielen Stellen so ideenlos mit der Situation umgegangen wird. Auch auf einem Rechner von 2004 oder ein bisschen früher ließe sich Linux installieren und es gäbe bestimmt eine Firma oder eine Entwicklergemeinde, die dafür ein sichereres Bankautomaten-Betriebssystem schreiben würde, als es auf der Windows XP-Plattform jemals möglich war. Vielleicht ist das wieder Gs. westliche Prägung, aber Ideen und die Fähigkeit, aus dem Vorhandenen das Maximum herauszuholen, hält G. für eine grundlegende menschliche Qualität und nicht für ein Produkt seiner Kultur. Die Schuld daran, dass er diese Fähigkeit in seinem Gastland oft nur schwer entdecken kann, gibt er der CCM und dem allgemein korrupten und wenig am Wohlergehen seiner Bürger interessierten Staat. Alle seiner Vorstellung nach intelligenten Leute, die G. bisher getroffen hat, litten unter dem System oder haben ihre gehobene gesellschaftliche Position nicht wegen, sondern trotz der Politik erreicht.
Die Frage, die sich für G. gelegentlich stellt, ist auch, wie kompatibel die Systeme, die in Tansania parallel existieren, überhaupt sind. Wenn man durch die Viertel Posta oder Masaki läuft, sieht man viele Firmen, die nach westlichen Normen arbeiten und Häuser, die direkt aus Beverley Hills importiert wurden. Dagegen herrschen, soweit G. das erkennen konnte, in den Vierteln der breiten Bevölkerung eher kleinräumige Organisationsstrukturen und eine lokal ausgerichtete, informelle Wirtschaftsordnung. Dass sich kleine Händler, Telefonreparateure und Motorroller-Kuriere kaum in das Mühlrad der globalisierten Wirtschaftsordnung einordnen können, ist allein aus Kosten- und Verwaltungsgründen klar. Trotzdem ist es so, dass sie nicht von ihm abgekoppelt existieren. Firmen wie Coca Cola, Samsung oder Hitachi sind schon längst mit ihren Produkten vor Ort. Mit ihnen gekommen sind alle technischen Errungenschaften der Industrialisierung, wie Autos und Plastik. Oft hat G. den Eindruck, dass die Menschen den Spagat zwischen der Welt ihrer Vorfahren und dem Industriezeitalter gut meistern. Wenn G. andererseits den Grad der Umweltverschmutzung an der idyllischen Smogglocke am frühen Morgen über dem Zentrum sieht und die Plastikberge, die auf Brachen vor sich hin verrotten, macht ihn das nachdenklich. Vor 70 Jahren war hier der Großteil der Abfälle organisch, kein Problem also, sie hinter seinem Haus abzuladen und zu warten, bis sie zu Erde werden. Mit den heutigen Werkstoffen ist das anders. Ein Problem übrigens, das G. in Tansania nicht zum ersten Mal beobachtet hat. Er könnte kotzen beim Anblick von wilden Mülldeponien in der fränkischen Schweiz, wo Bauern ihren Hofmüll entsorgen. Klar, aus der Ferne zu haten, ist unfair. Worauf G. aber eigentlich hinausmöchte, ist, dass dieser Kontrast zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Systemen nirgendwo reibungslos verläuft. In Deutschland gibt es aber einen Bund Naturschutz und eine Umweltpartei. In Tansania gibt es ebenfalls Behörden, die mit oft bescheidenen Ressourcen darum kämpfen, wenigstens die noch intakten Ökosysteme und Kulturen zu schützen.
Die Kontaktstellen zwischen Moderne und Tradition, die G. gesehen hat, sind nach seiner Einschätzung bereits jetzt sozial und wirtschaftlich schwer geschädigt und es gibt kaum jemanden, der den Menschen bei der Bewältigung der Folgen beisteht. Wenn, dann vielleicht aus dem Ausland, aber viel wichtiger noch wäre jemand von hier. Julius Nyerere hatte in den 70er Jahren mit seiner Politik ein Aufbruchssignal gegeben. Seitdem hat aber niemand sein Konzept angepasst und auch im Wahlkampf war kaum zu erkennen, dass die wirklichen Belange des Volkes irgendwie im Vordergrund standen. Die Regierungspartei CCM ist seit 1961 an der Macht. Sie hat getrödelt und war faul. Das hat sich dieses Jahr an den Wahlurnen gezeigt, auch wenn sie sich eine weitere Legislaturperiode sichern konnte. G. kann die Menschen verstehen, mit denen er gesprochen hat, und die sagen: Die CCM ist schuld.
Allerletzte Anmerkung: Im Geist diskutiert G. mit seinem Trainer für interkulturelle Fragen auf dem Vorbereitungsseminar, der einwenden würde, dass der Westen Tansania die Demokratie diktiert habe und niemand das Recht habe, die o.g. Werte als absolut wahrzunehmen. Ja und nein. G. hat sich entschieden, dieses Argument jetzt nicht gelten zu lassen.
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