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G.: Redmond, wir haben ein Problem!

Die digitale Datenspeicherung hat der Welt eine große Möglichkeit beschert: Informationen können faktisch ohne materiellen Aufwand vervielfältigt und verbreitet werden. Das haben auch die deutschen Ausbilder auf der Feuerwache erkannt und seit einigen Jahren erhalten die von ihnen ausgebildeten tansanischen Instruktoren Laptops mit dem benötigten Unterrichtsmaterial, die diese auch privat benutzen können, um sich mit wechselndem Erfolg und nach persönlichem Bildungsstand mit dem Internet zu vernetzen. Nachdem G. nun von zu Hause einen Rechner erhalten hatte, war sein Ersatzrechner aus den Beständen der Hamburger Stadtverwaltung überflüssig und sollte für einen solchen Zweck verwendet werden. Nun hatte G. allerdings bereits eine Linux-Distribution auf dem Rechner installiert, alle Software gratis, anpassbar und sicher. Aber kein Problem, neue Linux-Installation, anderes Festplatten-Passwort, ein paar Zusatzprogramme und fertig für den Anwender, einen Inspektor der Feuerwache.
Doch es gab ein Problem, auf das R. G. hinwies. Kein Mensch will Linux haben. Der flächendeckende Standard ist Windows, oft in den Versionen abwärts von sieben. Ein paar DJs und die Oberschicht verwenden Apple, das war es. Linux existiert in der Nerd-Community des Fablab, in der freien Wildbahn sucht man es so vergeblich wie einen Kaktus am Südpol. G. protestierte und ließ den Inspektor entscheiden. Beim Wort Linux schaute ihn dieser an, als habe er ihm gerade auf Fränkisch die Bestandteile eines Elisenlebkuchens erläutert. Keine Chance, dass er schon einmal von der Betriebssystem-Plattform gehört hatte. Beim Wort Windows zauberte sich dagegen ein dankbares Lächeln auf das Gesicht des Feuerwehrmanns und die Sache war entschieden.
R. drückte G. eine Windows-7-Installations-DVD in die Hand. G. steckte eine Festplatte an, sicherte seine Daten, überschrieb die Festplatte und startete die Installation des Software-Dinosauriers. Keine Auswahl des Dateisystems, 32-bit-Betriebssystem auf einem 64-bit-Rechner, keine Verschlüsselungsoptionen, kein Office-Paket. Am Ende gab es dann zur Belohnung ein hässlich animiertes florales Motiv als Hintergrundbild, gemeinsam mit der halbtransparenten Optik in Baby-Blau, die so aussieht, als habe man ein Foto von einer Einbauküche abstrahiert und dann mit einer GoPro im Swimmingpool abfotografiert. G. war also nicht wirklich mit dem Ausgang zufrieden. Im Gespräch mit seinem Kollegen S. lobte G. immerhin die Bedienbarkeit des Systems. Die findet er zwar schlecht, aber das ist auch Gewöhnungssache und außerdem ist es wohl kein Wunder, dass tausende von überbezahlten Ingenieuren irgendwie eine halbwegs verwendbare Benutzeroberfläche hinbekommen.
Egal, Open Office und VLC-Mediaplayer verwandelten das Ganze dann doch in ein verwendbares Gerät. Als einzige Schikane baute G. einen separaten Administrator-Account ein, damit nicht gleich der erste Virus das komplette System lahmlegen würde.

*Anmerkung des Autors: Hier ist der noch halbwegs deskriptive Teil des Textes zu Ende. Wer weiterliest, wird einer globalisierungskritischen und Microsoft-feindlichen Tirade Gs. ausgesetzt.*

Der Computer hat die Menschheit vorangebracht. Richtig angewendet, kann man digitale Datenverarbeitung bedingungslos als Fortschritt bezeichnen. Doch wie bei jedem Fortschritt ist es auch beim Computer so, dass diejenigen am meisten davon profitieren, die das größte Wissen besitzen. G. ist wahrscheinlich ein Nerd, aber er kann Gegenstände in 3D drucken, er kann kleinere Systemprobleme durch geeignete Kommando-Eingaben beheben und weiß, wie man ein Daten-Backup erstellt. Ok, kann man anfügen, muss er auch wissen, wenn er schon so blöd ist, Linux zu benutzen. Da lebt es sich für viele Mitmenschen doch besser mit dem seit drei Jahren nicht aktualisierten Windows-Betriebssystem und dem neuesten Smartphone, mit dem man 20-Megapixel-Whatsapp-Bilder von seinem zerbröckelten Geburtstagskuchen verschicken kann. Sie machen sich keine digitalen Sorgen und haben folglich auch keine, zumindest, bis sie einen APN einrichten müssen oder ihre Festplatte nach dem fünften Sturz kaputt ist, ohne Backup. Aber dann rennen sie in einen von irgendwelchen Immigranten betriebenen Elektronikladen und lassen das machen. Große Teile der Angehörigen dieser
Benutzergruppe kommen aus sozialen Milieus mit speziellen Herausforderungen, herkömmlich auch als Unterschicht bezeichnet. Oder sie kommen aus der digitalen Unterschicht, Generation 40+. An dieser Stelle könnte man ein Streitgespräch über die Durchlässigkeit sozialer Schichten in Deutschland anfügen und ob es gerecht ist, dass G. aufgrund seiner guten Ausbildung ein kostenfreies und allgemein zugängliches Linux-System benutzen darf. Und ob man die älteren Menschen verurteilen kann, weil sie keine Ahnung von diesem neuen Zeug haben. Auch wenn dieses Streitgespräch wegen Uferlosigkeit auslässt, kann man doch konstatieren, dass die meisten Menschen in Deutschland relativ guten Zugang zu digitalen Ressourcen besitzen. Weiterhin kann man feststellen, dass sie angesichts der massenhaft und teilweise kostenfrei zur Verfügung stehenden Bildungsangeboten tatsächlich recht einfach die Möglichkeit hätten, digitale Arbeitsgänge zu erlernen. Zudem stellt der Internetzugang in der sozialen Grundsicherung faktisch ein Grundbedürfnis dar.

Das ist in Tansania nicht so. Eine soziale Grundsicherung gibt es nicht. Und ein Recht auf Internetzugang schon gar nicht. Die Bildungslandschaft ist eine Katastrophe und der Staat ist zerfressen von den Interessen nationaler und internationaler Unternehmen, die sich mit Korruption und Vetternwirtschaft eine goldene Nase verdienen. Kein schönes Feld also für eine bürgerrechtsorientierte, individualistische, akademische Bewegung, aus der auch die Idee für Software wie Linux hervorgebracht wurde. An dieser Stelle kann man hinterfragen, ob Individualismus und die tansanische Kultur überhaupt zueinanderpassen. Bevor das getan wird, fragt G. lieber: Welche tansanische Kultur? Die der von Kolonialismus, Revolution und Kapitalismus zerrütteten Gesellschaft? Die der vom Tourismus korrumpierten Massai? Oder die der reaktionär-islamistischen Splittergruppen Sansibars, die gerne nach der Scharia leben würden? Individualismus als Motor für gesellschaftliches Bewusstsein wird in Tansania dringend benötigt. Insbesondere digital, denn das Internet ist in Ländern, wo die nächste Bibliothek oft geographisch unerreichbar und veraltet ist, eine essentielle Bildungsquelle. Insgesamt vermutet G., dass Tansania im Bereich der Internet-Infrastruktur, Datensicherheit und Software-Innovation im Allgemeinen um mindestens zehn Jahre hinter dem Westen liegt. Und hier kommen Unternehmen wie Microsoft ins Spiel. Auch im Westen bombardiert das Unternehmen den Markt mit schrottigen Anwendungen, Dumping-Lizenzen und Software, die die Benutzer gläsern macht. Allerdings gibt es Kundenschützer und Gerichte, die den Konzern zu schmerzhaften Strafen verurteilen, wenn er z.B. bestimmte Quellcodes den Drittentwicklern absichtlich nicht offenlegt, um sie vom Markt fernzuhalten. In Tansania geschieht eine solche Überwachung durch Staat und Öffentlichkeit faktisch nicht. Und so entsteht wie auf vielen Gebieten eine Vernachlässigung und Ausbeutung des globalen Südens durch die Wirtschaft, weil niemand da ist, grundlegende Rechte einzufordern. Das bedingt im digitalen Bereich eine problematische Kette.
Welcher Computer hält in Tansania die klimatischen Strapazen lange durch? Wenige. Wer kann sich in Tansania einen fabrikneuen Computer mit der OEM-Installation des Windows-Betriebssystems leisten? Kaum jemand. Wer macht sich die Mühe, für jeden seiner klapprigen Rechner alle proprietären Lizenzen beim inexistenten Windows-Store für ein halbes Jahresgehalt nachzukaufen? Absolut gar keiner.
Verständlich also, dass es auf dem tansanischen Elektronikmarkt faktisch nur B-Ware oder veraltete Produkte gibt. Die Software wird grundlegend raubkopiert und ist ebenfalls veraltet, was Konzerne wie Microsoft wegen ausbleibender Gewinne nicht zu Investitionen in diesen Markt lockt, den sie trotzdem wegen der Firmenkunden und der Hoffnung auf zukünftiges Wachstum nicht aus der Hand geben wollen. Marktwirtschaftlich ist dies verständlich, technologisch ist es fatal. Denn in die Nische alter Hardware und fehlender Mittel könnte Linux optimal einsteigen. Es könnte nur eben keine Gewinne erzielen, höchstens für die lokale Bevölkerung. Es gibt Distributionen, die selbst auf Rechnern vom Ende der 90er-Jahre laufen und trotzdem benutzbar sind und mit denen man im Industriestandard ODF verwertbare Dokumente erstellen sowie im Internet surfen kann. Sogar die ärmsten Anwender hätten die Möglichkeit, mit einem USB-Stick und einer Live-CD einen mit anderen geteilten Rechner autonom zu betreiben. Dazu fehlt aber das Wissen in der Bevölkerung und die Bereitschaft einer mächtigen Firma, einen Markt, den sie mit ihren Mitteln nicht bespielen kann, zu räumen. Das interessiert die Manager in Redmond kaum, aber es sollte gesagt werden. Linux is waiting around the corner. Und G. wird einiges daran setzen, dass es auf die neuen alten Rechner eines ihm bekannten, lokalen Jugendzentrums kommt, wenn sie aus Deutschland eintreffen. Redmond, der Kampf hat begonnen. Dein Don Quijote.