G.: Zwei Gebete

Manchmal denkt G. nach. Er hat überlegt, ob er leichten Herzens Tansania verlassen wird, oder ob ihm der Abschied schwerfallen wird. Eine Antwort hat er nicht gefunden, aber eine Sache, die er definitiv vermissen wird, wenn er wieder einmal in Deutschland ist. Meistens stößt sich G. eher an den Sachen, die ihm missfallen, weshalb er die schönen Dinge unbesehen mitnimmt. Aber manchmal hilft es ihm, sich zu überlegen, was ihm gut gefällt, wenn die Arbeitstage lang sind. Gestern war G. auf einem siebenstündigen Meeting der Feuerwehrführung von Dar es Salaam. Abgesehen davon, dass insgesamt sehr konstruktiv diskutiert wurde, gab es auch ein gemeinsames Mittagessen. Und nachdem es unter den Feuerwehrleuten sowohl Muslime als auch Christen gibt, gehörten natürlich zwei Tischgebete dazu. Eins wurde von einem muslimischen Offizier gesprochen, eins von einem christlichen. Es war ein kurzer Moment, der G. mit seiner deutschen, scheinbar weltbestimmend christlichen Herkunft gerührt hat. Er ist  als Mensch stolz, dass in Tansania Menschen unterschiedlicher Religionen als Nachbarn und Freunde nebeneinander leben. Und er schämt sich für Deutschland, wo kleingeistige und schlechte Menschen trotz des relativen Überflusses den Mitmenschen ihre Andersartigkeit, und sei es in nur in einer so privaten Sache wie dem Glauben, missgönnen und grölend auf die Straßen ziehen. G. weiß nicht, ob er jemals erleben wird, wie ihn in Deutschland der Ruf des Muezzins kurz weckt, bis er wohlig wieder einschlummert, weil er weiß, dass er nach dem Ruf zum Morgengebet noch eine Stunde schlafen kann. Natürlich haben auch Kirchturmglocken etwas Magisches. Der Uhrenturm mit der wohlklingendsten Glocke in Dar es Salaam gehört übrigens zu einer Moschee in der Nähe des Goethe-Instituts. Und jede Religion hat aus Gs. Sicht das Recht, ihre Anhänger zu rufen, gerade in einem freiheitlichen Land, wie es Deutschland sein möchte.

Wenn die pöbelnden Pegida-Anhänger das Festhalten an Traditionen fordern, handeln sie nach Gs. Meinung im Glauben, eine scheinbar behütete und gute Zeit festhalten zu können, die es freilich nie gab, was ihre tumben Köpfe freilich nicht verstehen. Blickte man nämlich auf das Wort Tradition, sähe man, dass das lateinische Verb tradere gut mit der Bedeutung des Weitergebens übersetzt werden kann. Weitergeben eines Dings bedeutet auch, dass man die Kontrolle über dieses abgibt. Und gerade im Zusammenhang mit facettenreichen, immateriellen Gütern kann das auch bedeuten, dass jeder Besitzer sie neu gestaltet. Kultur ist ein Werkzeug und zugleich ein Produkt des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Blickt man auf die großen und sich ständig wandelnden Felder, die Kultur bearbeitet, ist sie keinesfalls eine Gartenhacke, die auch nach zweihundert Jahren immer noch die gleiche Form besitzt. Sie wird sich wandeln, kann dafür aber auch nicht in Eisenoxid zerfallen. Sie kann immer eine starke Richtschnur bleiben, gerade in Zeiten der Ungewissheit und im Falle der Pegida-Demonstranten, der Angst vor Perspektivlosigkeit und Orientierungsverlust, wenn man sich nach einer starken Reling vor dem kabbeligen Meer sehnt. Nur: Wer würde sein Gewicht einer Reling anvertrauen, die schon seit fünfzig Jahren nicht mehr überprüft und ausgebessert wurde? Gerade wer auf Sicherheit bedacht ist, wird seine Tradition mit der Gegenwart in Einklang bringen müssen, auch wenn das vielleicht zwei Tischgebete und längeres Warten auf das Mittagsmahl beinhaltet. Wobei nach Gs. Ansicht, der bayerischer Katholik ist, auch Beten bei Neonazis nichts mehr hilft. Und ganz gleich, ob die Götter der Menschen zwei Köpfe, drei Füße oder vier Augen haben, sind Menschen primär Menschen. Der muslimische Kollege von G. hat also zur allemeinen Erheiterung ein sehr kurzes Gebet gesprochen, denn nach der vierstündigen Debatte hatten alle großen Hunger.

Ein Gedanke zu „G.: Zwei Gebete“

  1. Lieber Jakob,
    Deine Omama schaut ja regelmäßig nach, ob es wieder was Neues von Dir zu lesen gibt.
    Deine „2 Gebete“ und Deine Überlegungen zu Tradition usw finde ich so schön und klug, dass ich echt gerührt bin. Danke!
    Seit ein paar Wochen bereite ich mich darauf vor, in die Flüchtingshilfe einzusteigen. Es wird ein neues Haus aufgemacht direkt hinter der S-Bahn, für bis zu 60 Personen. Nun hab ich mich als „Hauspatin“ zur Verfügung gestellt, mit zZt noch einer anderen Frau. Hoffentlich kommen da noch mehr Helfer dazu. War nun auch 2x bei einem Sprachkurs dabei und hab erlebt, wie eine sehr kompetente, erfahrene Frau das macht. Bin gespannt, ob ich im „Haus Wolke“ auch ein Bisschen sowas auf die Beine stellen kann. Termine mit Infos usw häufen sich und das Wissen, wie unsere „Wilkommenskultur“ des letzten Jahres von oben herab abgeschnürt wird.
    Bin sehr gespannt, was nun wirklich auf mich zukommt., hab aber auch etwas Angst davor.
    Ganz liebe Grüße von Deiner Omama

Kommentare sind geschlossen.