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Kommentar: Perspektiven einnehmen

Ein Bild aus Afrika. Ein armes Kind irgenwo auf einer Straße. Es sieht hungrig aus, verschwommen sieht man ärmliche Hütten im Hintergrund. Das Kind hat keinen Namen. Es ist nur ein Symbol für eine Erwartung an einen Kontinent, den sich die Berichterstattung zu bemühen erfüllt. Dabei nimmt die auf einen ungeschriebenen Standard reduzierte symbolhafte Darstellung von Hunger, Armut und Leid auch eine vergleichende Perspektive ein. Seht, wie gut es uns geht. Seht, wie viel besser wir sind, die diese Probleme schon längst nicht mehr haben. Seht, wie westliche Großkonzerne den globalen Süden zu Grunde richten. Die Botschaften können je nach Bedarf und Zweck verändert werden. Grundkomponente ist immer die Feststellung eines Wohlstandsunterschieds zwischen „ihnen“ und „uns“, kombiniert mit einer Botschaft, die sich meistens aus dem Pool Spendenaufruf, Globalisierungskritik oder Entwicklungsarbeit speist. Gleichzeitig suggeriert das Bild mit einem Menschen „von der Straße“ hohe Authentizität und Objektivität. So sieht es da aus. Tatsächlich ist inhaltlich auf diesen Bildern meist nicht viel zu sehen, es werden vielmehr Allgemeinplätze aufgerufen, die unabhängig von den Bildern existieren. Im Prinzip könnte der Fotograf auch „Afrika – Armut“ auf ein Blatt Papier schreiben, nur dass Bilder von Menschen eine stärkere emotionale Wirkung entfalten.
Über Allgemeinplätze, Klischees und Vorurteile ist viel gesagt und geschrieben worden. Ein weiterer Aspekt der Diskussion, der weitaus seltener Beachtung findet, ist dagegen die Frage nach der Perspektive, die jeder Bericht einnimmt. Egal ob für die Berliner TAZ, die Bild oder ein Infoblatt der Caritas, kein Bericht ist ohne Standpunkt. Dies gilt insbesondere für die Berichterstattung über andere Kulturkreise. Dabei eint alle, von den Erzkonservativen bis zu den linken Fundamentalisten, ihre westliche Perspektive. Sie alle schaffen aus ihrer Sicht ein Dokument von hohem Wahrheitsgehalt, geschaffen nach ihrem genuinen Werte- und Wahrnehmungssystem. Dieses Wahrnehmungssystem ist meistens aber keineswegs kompatibel mit der Realität, über die berichtet wird. Und so schafft jeder Bericht trotz der hohen Ansprüche seiner Autoren ein Zerrbild, das von einer bestimmten wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Warte aus eine spezielle Perspektive darstellt. Der Mensch ist durch Globalisierung und internationalen Austausch kein omnikulturelles Wesen geworden.
Jeder Bericht nimmt Perspektiven ein, besitzt also einen Darstellungsfehler, ganz gleich, ob er mit dem Ziel geschaffen wurde, interkulturelles Verständnis zu schaffen oder zu dokumentieren, „wie es da ist“.
Doch ist dies nicht grundlegend schlimm, denn auch aus dem verzerrten Bild einer Action-Kamera können mit der richtigen Software wertvolle Informationen entnommen werden. Vielmehr kommt es darauf an, dass es gelingt, Perspektiven zu identifizieren und dass auch die Berichterstatter ehrlich zu ihren Perspektiven stehen. Nicht immer ist das einfach, denn kaum ein Bild-Reporter wird schreiben, dass sein Artikel Klischees über ein bestimmtes Land bestätigen soll, um die Erwartung einer bestimmten Leserschaft zu erfüllen. Wenige Fotografen werden ihre Reportagen mit dem Slogan „Serengeti! Exotische Bilder für den Kleinbürger“ anpreisen, selbst wenn das die inhaltliche Leitlinie und das wirtschaftliche Konzept der Reportage sein sollte. Es sind also auch die Konsumentinnen und Konsumenten von Berichten gefragt und gerade jenen, die beanspruchen, „nur“ zu dokumentieren. Sie müssen beobachten, was der Bericht ihnen zeigt und sich besonders dafür interesssieren, was er ihnen nicht zeigt, ob in Worten oder Bildern. Dies kann geschehen, indem man seine Quellen diversifiziert. In der Welt, die immer mehr zusammenwächst, kann dies aber auch gut bedeuten, selbst einmal nachzusehen, hinzufahren, nachzufragen. Denn in unserer westlichen Demokratie sollten Perspektiven und ihre Interpretation kein Privileg sein. Vielmehr hat jede und jeder das Recht auf eine eigene. Diese kann dann mit denen der anderen verglichen werden und jeder wird für sich selbst entscheiden, wie er auf die Welt blickt. Die absolute Wahrheit gibt es nicht. Doch wenn wir uns unserer Blickwinkel bewusst werden, andere Blickwinkel hinterfragen und vielleicht sogar selbst einnehmen können, kommen wir ihr ein Stück näher.

Dieser Kommentar ist das Vorwort zu einer Reportage-Reihe, die sich mit dem Alltag in Dar es Salaam und der Arbeit im System dieser Großstadt beschäftigt.