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G.: In die Wildnis

An diesem Wochenende hat G. einen Traum verwirklicht, den er schon seit zwei Wochen gehegt hat: Er ist mit dem Fahrrad in die Wildnis aufgebrochen. Ziel: Die kleine Stadt Bagamoyo 50 Kilometer nördlich von Dar es Salaam, ehemaliger Sitz der deutschen Kolonialregierung und Zentrum des lokalen Sklavenhandels. Geschichte kombiniert mit wilder, unberührter Natur, das kann nur Afrika sein. Vorneweg: G. ist keinen Buschmännern begegnet, ebensowenig wie sein Freund L. von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Es war auch nicht so, dass sie einfach in die Wildnis aufgebrochen wären. G. hat sich auf Google Maps alles genau angeschaut und die Satellitenbilder der schwierigen Stellen in Schwarz-Weiß ausgedruckt und von Hand den Weg eingezeichnet, falls die Elektronik ausfallen sollte. Es war also eigentlich eine recht moderne Tour, eine, die ohne die nur im Internet verfügbaren Informationen nicht möglich gewesen wäre. Andere Informationen waren dagegen im Internet nicht erhältlich, beispielsweise die Anzahl der zu durchquerenden Militärsperrgebiete, der platten Reifen unterwegs und der potentiell kritischen Situationen mit anderen Menschen in abgelegenen Gebieten (1/5/1). Folglich war G. schon ziemlich aufgeregt, als er am Freitagabend schlafen ging.

Um halb sechs klingelte der Wecker, Frühstück, Gepäck aufs Fahrrad laden, obenauf Pumpe, Flickzeug, Wasser und ein Holzstock (zum Öffnen von Kokosnüssen oder zum Erwecken eines wehrhaften Eindrucks). Dann ging es los. Die erste Strecke bis Mikocheni war einfach, da G. sie schon kannte. Danach ging es immer weiter durch die Vororte, G. trat in seine erste Schlammpfütze, doch er hatte Wanderstiefel an. Er klemmte sein abgefallenes Schutzblech wieder an, dann ging es weiter. Gemeinsam mit einem Rastafari, der Reggae auf seinem Ghettoblaster hörte, erklommen G. und L. einen Hügel und schlängelten sich weiter durch das Umland von Dar es Salaam, an kleinen Läden vorbei, Schulen, Häusern, Ziegen und Menschen, die ihrer Arbeit nachgingen. Sie kamen an einer Gegend vorbei, die komplett überflutet war und in der fast alle Häuser abgerissen waren. Nur eine Villa stand einsam im Wasser herum, daneben ein Auto. Wer die beiden dort wohl zurückgelassen hatte? G. sah seinen ersten Mangrovenwald, wo kleine Krebse im Schlamm herumrannten. Wasservögel flogen auf, als G. sich näherte, um sie zu fotografieren. An einem Abzweig las G. ein Schild, das irgendetwas mit dem Militär zu tun hatte und irgendeiner geschlossenen Straße. Sie fuhren auf einer sehr leeren Piste weiter. Irgendwann sahen sie zwei Männer die am Straßenrand standen. Einer trug eine Tarnhose. Achtung, Straßenräuber, dachten G. und L. und beschleunigten sie. Die Aufforderung zum Anhalten überhörten sie geflissentlich, denn das wäre ja gefährlich. Gut, dass in Tansania nur wenige Sicherheitskräfte Waffen tragen. Sie kamen an eine große Teerstraße vor einem Kasernentor. Ein Offizier in Zivil blaffte sie an, woher sie kämen und wohin sie wollten. Nachdem sie sich entschuldigt hatten und G. ein wenig seine Zugehörigkeit zum Innenministerium hatte heraushängen lassen, durften sie weiterfahren, auf einer großartigen Asphaltstraße, die allerdings öffentlich war. So kamen sie in die nächste Siedlung. G. und L. verfuhren sich ein wenig, doch sie fanden mit Internetunterstützung eine Furt, die sie überquerten, um zur Route zurückzukommen. G. durfte sich noch ein wenig verdient machen, indem er einem Motorradfahrer half, seine Maschine den schlammigen Hang hochzuwuchten. G. ist sich nicht immer sicher, aus welchen Motiven er in diesen Situationen hilft. Einerseits wäre es unfair gewesen, den Menschen mit seinem Motorrad alleine zu lassen. Andererseits könnte die Hilfe auch eine gute soziale Absicherung sein. Der Motorradfahrer erlebt einen Weißen, der nicht mit einem großen Geländewagen herumfährt und sich mit Politikern trifft, die er höchstens aus dem Fernsehen kennt, sondern etwas Handfestes zu seinen Gunsten tut. Er wird das vielleicht seinen Kollegen erzählen, wenn er sie an der nächsten Kreuzung trifft und sie werden in einem Umkreis von bis zu zehn Kilometern freundlich zu den weißen Touristen sein, wenn zufällig jemand da ist, der die Story kennt. Bei einer kurzen Rast unter einem großen Mangobaum unterhielten sich G. und L. mit dem Fahrer eines kleinen Lastwagens. Diesem begegneten sie tatsächlich im Verlauf der nächsten zehn Kilometer immer wieder und sie grüßten einander. Nach der nächsten Furt hatte G. einen Platten. Das nächste Dorf war glücklicherweise nur einen halben Kilometer entfernt. Nach einer lustigen Unterhaltung mit den Männern, die unter einem Baum Fahrräder reparierten, war der Flicken fertig und es konnte weitergehen. Die Männer fragten unter anderem auch, ob G. schon verheiratet sei. Wenn er dies verneint, herrscht oft große Ungläubigkeit, denn in Tansania liegt das durchschnittliche Heiratsalter nach Gs. Wahrnehmung deutlich tiefer als in Deutschland. Auf die Frage, ob G. denn in Tansania heiraten wolle, antwortet er meist, dass es schwer sei, zwei Heimaten zu haben. Die meisten Menschen, die G. auf der Straße getroffen hat, haben das Thema aber auch nicht mit großem Ernst vertieft, sodass meistens viel gelacht wird. Die Männer wünschten G. und L. eine gute Reise und es ging weiter. Die Straße wurde schmaler und nach einem langen Anstieg in der inzwischen fast mittäglichen Hitze beschlossen die beiden Reisenden, dass es Zeit für eine Rast wäre. Sie setzten sich in den Schatten eines Mangobaums zu einigen Benzinhändlern, die ihre Flaschen auf einem Tisch an der Straße stehen hatten. G. ging los und kaufte Reis mit Bohnen und einen frittierten Fisch, nachdem sie die komplette Schokoladentafel, die G. dabeihatte, zusammen mit den Verkäufern aufgegessen hatten. Endlich Kohlenhydrate! Zum Nachtisch gab es noch eine fantastische Mango.

Dann wurde es ernst. Die Einöde begann. Zunächst trafen sie noch einen Jungen, der in die gleiche Richtung unterwegs war und auf einer Farm wohnte. Danach kamen sie in ein Gebiet, wo eine Oberschichtsiedlung mitten ins Nichts planiert werden soll. Bisher zeugte davon eine Schotterpiste, eine Schranke mit Wachhäuschen und ein betonierter Straßengraben. Dann begann ein illegales Sandabbaugebiet. Laut dem Satellitenbild mussten sie die erste Straße links nehmen. Auch wenn G. in solchen Gegenden immer gut schaut, wird man meistens früher gesehen, als man sieht. Ein Mann rief zu ihnen hinüber, dann wurden drei weitere sichtbar und ein Mann weiter weg. Eine schlechte Piste führte hinunter in eine Sandgrube. War das schon der Abzweig? G. und L. überlegten hastig, ob sie rasch weiterfahren sollten, denn die Männer näherten sich. Dazu sollte man sagen, dass der illegale Abbau von Sand zu den weniger hoch dotierten Arbeiten in Tansania gehört. G. stellt sich soziale Kohäsion manchmal als Sandkuchen vor. Wenn das Wasser bzw. das Geld fehlt, beginnt es zu rieseln. Ein wichtiger Faktor neben den Wohlstandsunterschieden ist in Gs. Sicherheitswahrnehmung auch die Sesshaftigkeit des Gegenübers. Kein noch so armer Mensch würde einen Reisenden mitten in seinem eigenen Dorf ausrauben. Das würde zu sozialer Ächtung führen, zumindest in Tansania. Die Anwesenheit von Frauen wirkt zudem auch entschärfend. Schwieriger sieht es bei entlegenen Gegenden aus, in denen sich nur nicht-sesshafte Männer aus niederen Einkommensschichten aufhalten, in die z.B. Motorradkuriere und Sandarbeiter fallen. Deshalb waren G. und L. ein wenig nervös. Die Männer erwiesen sich aber als recht freundlich und wiesen wegen der nicht optimalen Verständigung den Reisenden den Weg zum Meer. Die grobe Richtung stimmte aber, sodass G. und L. den Abzweig fanden und durch eine Savannenlandschaft weiterfuhren. Dann hatte L. einen Platten. Da sie sich an einer Strecke befanden, wo sie weitere Menschen gesehen hatten, die zur o.g. Gruppe gehörten, schlugen sie sich ein wenig ins Gebüsch. Dort flickten sie im Halbschatten den Schlauch und setzten den Weg fort. Inzwischen war es Nachmittag, der Verkehr hatte abgenommen. Sie kamen an eine Salzgewinnungsanlage, riesige Teiche, daneben eine Hütte mit einem großen Stapel Salzsäcke. Niemand war zu sehen und G. und L. setzten den Weg fort. Es ging weiter auf einem Pfad. Hier war der Teil der Strecke, indem sie zweihundert Meter irgendwie nach Westen mussten, was auch gut klappte. So fanden sie eine Fahrspur und stellten, als sie losfahren wollten, fest, dass L. erneut einen Platten hatte. Sie versteckten sich im Unterholz und flickten auch diesen. Zurück auf der Fahrspur war dann der andere Reifen platt. Hinter einem Strauch wurde auch dieser geflickt. Als ein Motorrad auf der anderen Seite der Wiese vorbeifuhr, kauerten sich G. und L. ins Gebüsch. Dann kamen sie an eine weiter Salzfarm. Ein Hirte lag im Schatten und bewachte seine Kühe. Endlich waren sie wieder an einer Piste, die auch von Google verzeichnet wurde. Diese war allerdings extrem sandig und schwer zu fahren. Eine Frau rief den Reisenden von ihrem Gehöft einen Gruß zu. Es wurde langsam Abend. Sie hielten noch kurz bei einer Familie auf einem kleinen Hof an und bekamen die Einladung, wiederzukommen. G. möchte dies gerne irgendwann tun, um die Gegend noch ein wenig zu erkunden. Die Salzteiche und die Kleinbauern erschienen ihm deutlich freundlicher als die illegalen Sandgruben, die den unbändigen Bauhunger von Dar stillen. Zurück auf der Straße hatte L. seinen vierten Platten. Die Ankündigung, beim nächsten Platten einfach das Flickzeug hinzuwerfen und so schnell wie möglich das Weite zu suchen, löste G. nicht ein. Er fand stattdessen zum ersten Mal eine Cashew-Nuss, die noch an ihrer Frucht hing. Es gibt in der Gegend zahlreiche Bäume, was sich auch in den Snacks niederschlägt, die an der großen Landstraße angeboten werden. G. schickte C. eine Positionsmeldung, auf der nur eine Straße und die Stecknadel im Vorschaubild erschienen. Doch anschließend fanden sie rasch den richtigen Abzweig und kamen bald in ein kleines Dorf. Dort gab es wieder Trinkwasserflaschen, sodass G. und L. umringt von neugierigen Kindern ihre Vorräte wieder aufstockten. Irgendwann sahen sie das ersten Bajaj (Ape-Taxi), das schon zu Bagamoyo gehören musste, da die Gefährte auf halbwegs feste Straßen angewiesen sind. Als sie schließlich an die Teerstraße gelangten, mutete ihnen diese ein wenig wie ein Wunder an. Irgendwann endete die Teerdecke wieder, es folgte ein Rattenschwanz in der zunehmenden Dämmerung. Irgendwann kamen sie auf das Plateau vor Bagamoyo. Die über den Tag aufgebauten dunklen Wolken schickten ihnen kalten Wind entgegen, ein paar Tropfen fielen. Mit dem Blick auf das Meer und den im Wind schaukelnden Palmen genoss G. die Szenerie sehr. Irgendwann waren sie in Bagamoyo. Vor der Kunsthochschule (eine der bekanntesten in Tansania) rief G. C. an, die F. schickte, um sie abzuholen. Die italienischen Freiwilligen wohnten ganz in der Nähe. G. und L. wurden herzlich aufgenommen, es gab Pasta zum Abendessen. Etwas besseres hätten sich die beiden nicht wünschen können. Ein wenig klischeehaft war es natürlich, aber Nudeln sind doch etwas internationaler und leichter erhältlich als Kloßteig oder richtige Bratwürste, weshalb die Deutschen bei ihrem Essensplan wohl weniger an lokalen Essenstraditionen festhalten. Dankbar fielen G. und L. auf ihre Matratzen.

Am nächsten Morgen brachen sie zu einem leckeren Frühstück in einem Hotel am Meer auf. Dort gab es am Pool richtiges Müsli. Das war der luxuriöse Teil der Tour, denn anschließend fuhren sie noch an einen Strand an einer Lagune, wo es noch ein Picknick gab, bevor sich G. und L. herzlich von ihren Gastgebern verabschiedeten und nach Hause aufbrachen. Sie prügelten ihre Fahrräder die Hauptstraße hinunter, verschlangen an einem Kiosk ein weißes Toastbrot, zwei Orangen und schluckten eine wunderbar künstlich schmeckenden Limonade hinunter. In der Dämmerung kamen sie zu Hause an. Sie hatten die Wildnis überlebt.

Die Bilder der Tour sind hinter diesem Link zu finden.