Heute hat G. gekämpft. Er hat hart gekämpft für ein Stromkabel. Ein Stromkabel, das die Landleitung mit der Schlosserei verbindet und dessen Sicherung nicht dreißig Sekunden nach dem Einschalten des Winkelschleifers herausfliegt. Denn dabei könnte die Sicherung eventuell die Eidechse gefährden, die im Sicherungskasten wohnt. Bei der Geschichte ist allerdings zu erwähnen, dass nicht G. gekämpft hat. Er hat nur pedantisch darauf beharrt, dass das Problem behoben würde. Nachdem verständlicherweise niemand aus der Werkstatt bereit war, händisch ein Kabel an die Landleitung anzuklemmen, wurde ein Techniker aus dem Hauptquartier gerufen. Dieser Techniker verhandelte dann hart mit dem Leiter des Feuerwehrbezirks, denn das passende Kabel kostete einen US-Dollar pro Meter und es wurden ca. 50 Meter benötigt. Der Chef hat schließlich nachgegeben und den Leiter der Werkstatt aufgefordert, einen detaillierten Plan einzureichen. Nach den Aussagen, die G. verstanden hat, würden die Arbeiten schon am nächsten Tag beginnen, weil der Chef sich persönlich um die Finanzierung kümmert. Und er stand weiter daneben und hörte zu. Dann war sein Arbeitstag vorüber, denn wegen eines anhaltenden Regengusses hatte er keine Teile für den geplanten Bootstrailer zuschneiden können, vom Schweißen wegen der fehlenden Leitung gar nicht zu reden. Das Frühstück war immerhin lecker gewesen (Brötchen, Süßkartoffeln und Milchreis) und nun bestand die Aussicht auf ein repariertes Fahrrad, das zur Abholung bereitstand, sowie ein leckerer Mittagssnack, bestehend aus Donuts, Kokosnuss und Banane. Das Fahrrad war in der Tat fertig und fahrtüchtig, sodass G. die 30.000 Shilling (ca. 12 Euro) gerne investierte. Am Nachmittag gingen G. und S. zum Schwimmtraining.
In der Tat ist es so, dass G. inzwischen besser gelernt hat, gegen wen man Vorurteile hegen soll, und gegen wen nicht. Die Funktionäre aus dem Hauptquartier sind allesamt Pfeifen. Wer bei ihnen ein Gesuch für Material oder Projekte einreicht, bekommt vor seiner Pensionierung keine Antwort oder eine negative, da der Commissioner in seinem Hauptberuf Fischzucht im großen Stil betreibt und nur als hochbezahlter Minijobber beim Innenministerium arbeitet. Manchmal denkt G. an die Szene aus dem James-Bond-Film „Skyfall“, in der das MI6-Hauptquartier in die Luft gesprengt wird und stellt sich dabei den Glasturm vor, in dem sich das Hauptquartier der Feuerwehr befindet. Die Feuerwehrleute auf der Wache dagegen sind differenzierter zu sehen. Es gibt Spitzenkräfte unter ihnen, versierte Experten ihres Berufs, aber auch Alkoholiker und Posteninhaber ohne Leistungs- und Verantwortungsbewusstsein, zu denen auch Teile der Führung zu zählen sind. Nach Gs. Einschätzung ließen sich wahrscheinlich bis zu zwei Drittel des Personalbestandes einsparen, ohne dass fühlbare Einbußen bei der Einsatzbereitschaft zu spüren wären. Mit der Einschätzung dieses Missstandes ist G. nicht alleine, viele seiner tansanischen Kollegen beschweren sich über ähnliche Phänomene. Heute hat G. einmal ganz schnell schlechte Laune bekommen, als jemand vorschlug, eine Anfrage an den Commissioner zu schreiben, er meinte unwirsch, dieser sei korrupt und man könne sich das Papier auch sparen. Der Gesprächspartner meinte leise, er wisse das. Für einen Moment fühlte sich G. verstanden, aber er wusste auch, dass seine Worte keine klugen waren. Denn getretener Quark wird breit, nicht stark. Und so kommt G. zu seiner Theorie, die in ihrem Kern lautet: „Der Westen hat die Routine zerstört.“
Die Kolonialzeit hat die herkömmlichen Strukturen der kolonisierten Regionen grundlegend verändert. Gleichzeitig haben die Kolonialregierungen mit wechselndem Erfolg ein Verwaltungs- und Rechtssystem nach westlichem Muster aufgebaut, das allerdings hauptsächlich mit eigenem Personal oder lokalen Eliten besetzt war. Bei der Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit wurde dieses System meist mehr schlecht als recht in die Hände der neuen Machthaber übergeben. Diese strebten meist nach einer neuen nationalen Identität, die aber oft reaktionär gegen das Kolonialsystem gerichtet war und doch dessen Strukturen übernahm, da eine Rückkehr zur vorkolonialen Gesellschaftsordnung aufgrund ihrer Überprägung nicht mehr möglich war. So entstand eine Mischung aus dem Schlechten beider Systeme. Eine extrem starre und schwerfällige Verwaltung wurde fortgeführt, die sich nur durch Beziehungsnetze, die in der vorkolonialen Gesellschaft sinnvoll und nutzbringend waren, umgehen ließen. Nun aber führten sie zu Klientelismus und Korruption. Beide Systeme kollidierten, da es mit keinem eine Routine gab. Die Kolonialmächte hatten den jungen Staaten einen Crashkurs im Nation Building gegeben, der völlig ungenügend war in einer Welt, in der sich faktisch kein Staat dem Sog der Globalisierung entziehen kann. Gleichzeitig begannen die traditionellen Strukturen wieder an Bedeutung zu gewinnen, ohne, dass jemand darüber nachgedacht hätte. Für beide Systeme fehlte die Routine und ie Abgrenzung, welches gültig sei. G. ist klar, dass dies seine persönliche Sichtweise ist, die möglicherweise anmaßend ist und verallgemeinernd. Sie bewegt sich in der Nähe der Dualismustheorie, die aber eher wirtschaftliche Unterentwicklung durch die parallele Existenz moderner und traditioneller Strukturen erklären will. G. sucht dagegen das generelle Problem und den Schuldigen. Das generelle Problem ist die fehlende Routine. Routine im Umgang mit Naturkatastrophen, neuen Technologien, die neue Abfälle produzieren, dem Bevölkerungswachstum und der globalisierten Wirtschaft. Die Schuldigen sind auch und besonders der Westen. Sie haben die alten Kolonien in ihre Ordnung eingegliedert, ohne ihnen vorher die Regeln zu erklären und sie den Auftritt auf der Weltbühne, von der sie nicht mehr verschwinden können, proben zu lassen. Sie haben eigenständige Ansätze der alten Kolonien teilweise bewusst behindert, aus Angst, die Deutungshoheit zu verlieren. Und sie haben ihren Wirtschaftsakteuren nicht verboten, diejenigen zu korrumpieren, die das Spiel einigermaßen verstanden hatten und vielleicht ihre Nation darin hätten unterrichten können.
Der Westen hat die Routine gestohlen.
Hallo lieber Jakob,
über Mira bin ich auf Deinen Blog gestoßen und habe mich etwas vertieft in Deine Zeilen…. Sehr berührend finde ich, welche Gedanken Du Dir machst und wie Du mit Deinen Erfahrungen umgehst.
Gerade zu diesem Artikel finde ich besonders spannend, dass Du einen der Gründe der Kolonialzeit auf ein Fehlen der Routine zurückführst.
Für mich stellt das eher die Folge aus dem Ganzen dar. Dazu muss ich vielleicht beifügen, dass ich selbst ein Jahr in Südafrika verbracht habe. Natürlich ist Südafrika ein ganz anderes eigenes Land, jedoch auch von der Kolonialzeit betroffen. In meinem Jahr habe ich nur einen Einblick in das Land bzw Teile des Landes bekommen und das auch nur aus meiner Sicht. Daher bitte ich Dich hier um Nachsicht auf das was ich schreibe, da es eben nur aus meiner persönlichen Wahrnehmung stammt. Ich selbst hatte eher den Eindruck, das westliche Gepflogenheiten, Lebensstile und Moralansichten einfach diesen von uns so genannten Entwicklungs-/ bzw Schwellenländern übergestülpt worden sind. Nun kann man sich natürlich fragen was wäre „richtig“ gewesen und darüber lange philosophieren um dann nur enttäuscht und bestürzt über die Welt und die Menschheit zu sein. Doch ist mehr die Frage die, die sich nach vorne richtet. Wie geht man mit diesem Eingriff/ Übergriff um, zumal jetzt aus Deiner Sicht als Deutscher? An dieser Stelle tauchten für mich plötzlich viele Themen auf, die davor nicht meine gewesen waren, zum Beispiel die Frage woher komme ich und was hat mich geprägt und was repräsentiere ich in diesem Land und welche Vorurteile erfüllen sich dadurch? Das würde nun hier aber den Rahmen sprengen, wenn ich weiter erzählen würde…
Nun bin ich aber nach ein paar Jahren meines Aufenthaltes immer mehr davon überzeugt, dass man die Menschen dort abholen muss wo sie gerade stehen. Dann vielleicht gemeinsam einen neuen Weg gehen bei dem man aber sich bewusst ist , dass jeder gleich viel vom anderen lernt was für mich bedeutet auf einer Augenhöhe zu arbeiten. Das war in meinem Jahr in Südafrika eine große Herausforderung für mich, da ich gar nicht verstand, wie die Menschen denken und fühlen und immer noch sind viele Fragen nicht beantwortet…
Lieber Jakob, ich hoffe, dass war nicht zu viel und auch hoffe ich, dass das hier in Deinem Blog auch thematisch passt?
Ich wünsche Dir weiterhin ein gutes Jahr, dass Du offen bleibst, neugierig und Lust dabei hast diese so eigenartige Welt kennen zu lernen!
Herzliche Grüße!
Liebe Antonia,
danke für die Überlegungen, die du geteilt hast. Ich kann dir zustimmen, dass den ehemaligen Kolonien aus meiner Sicht zahlreiche westliche Strukturen und Sichtweisen übergestülpt wurden. Ohne bewerten zu wollen, ob diese besser oder schlechter sind als die herkömmlichen Strukturen dieser Gebiete ist meine Aussage eher, dass die ehemaligen Kolonien mit den neuen Strukturen durchaus hätten leben können, wenn man sie besser hineingeführt hätte. Ich habe, glaube ich, mehr auf das Problem geschaut als auf die Lösung. Das hatte ich in dem Artikel nicht vor, aber es freut mich sehr, dass du diese Richtung skizziert hast und nicht zu lange bei dem Punkt verweilst, wie eigentlich die Politik der Kolonialmächte zu werten ist. Dazu bedarf es sicher einer konstruktiven Diskussion, doch ab einem bestimmten Punkt ist es, wie du sagst, auch wichtig, dass man die Gegenwart nicht vergisst, die Menschen abholt und mit der Realität etwas anfängt. Denn auch wenn das Vorgehen der Kolonialmächte durchaus verurteilenswert war, hat es dennoch Realitäten geschaffen, mit denen wir jetzt leben müssen. Wenn wir sie akzeptieren und das Beste aus ihnen machen und dabei möglicherweise gemeinsam für die Zukunft lernen, ist viel gewonnen.
Ich hoffe, diese Antwort war nicht zu lang und hat sich auf deine Anliegen bezogen. Danke für deine Sichtweise.
Jakob