N3+

Schweden I

G. ist in Stockholm Arlanda angekommen. Zusammen mit seiner Schwester sitzt er in der Lounge der Schwedischen Staatsbahn SJ und schaut aus dem Fenster auf das trübe Rollfeld, wo langsam die Lichter angehen. G. schlägt vor, ein Computerglossar für Anfänger zu beginnen. Zum Geburtstag hat er seiner Schwester einen Gutschein für das gemeinsame Zusammenbauen eines Rechners geschenkt. Es wird Zeit für sie, hatte er gedacht, mit dreizehn muss man IT langsam drauf haben, dann kommt man auf die coole Seite der Macht. Als sie zu schreiben beginnen, fallen G. die Begriffe nur spärlich ein. Er bemerkt auch, dass er von vielen Fachwörtern eigentlich keine große Ahnung hat. Klar kann er grob damit umgehen, aber ein Glossar mit einer exakten Erklärung schreiben? G. fühlt sich etwas anmaßend. Seine Freunde sehen ihn als Nerd, weil er ein bisschen mehr weiß als der Rest. Wenn G. mit richtigen Nerds zu tun hat, fühlt er sich manchmal als jemand, den man euphemistisch als Social Thinker bezeichnen könnte. Jedenfalls nicht wie jemand, der im Handumdrehen ein paar dysfunktionale Treiber patcht. Supermarkt gibt es keinen am Flughafen, nur überteuerte Schrottläden. G. hat Hunger. Mit seiner Schwester macht er sich auf den Weg zum Bahnhof. Durch lange Gänge und mit einer ewigen Rolltreppe in den Granit des skandinavischen Schildes kommen sie auf den Bahnsteig. Bei der Zugangskontrolle werden sie kurz angehalten. G. zeigt die Billetts vor und ist selbst überrascht davon, wie flüssig sein Schwedisch zumindest in den eigenen Ohren klingt. Der Bahnhof ist futuristisch und archaisch gleichzeitig. Die Deckenbeleuchtung spiegelt sich auf dem blankpolierten, etwas welligen Boden, über den Köpfen hängt mit den Jahren schwarz gewordener Spritzbeton. Zwei deutsche Backpackerinnen kommen auf den Bahnsteig. G. erkennt sie zunächst an der Sprache. Es ist aber auch so klar, denn niemand sonst läuft mit einem fetten Alpakaschal als Mantel, Leggins und Wanderschuhen herum. G.s Schubladensystem triumphiert. Lustig, dass es so klare Gattungen von Menschen gibt. Die Kreativ-Öko-Selbständig-Backpacker aus Deutschland zum Beispiel. Wahlweise kommunistisch oder unpolitisch. In jedem Fall irgendwie grün und alternativ. Schluss mit dem Sarkasmus, denkt sich G. und nimmt sich vor, ab sofort wieder menschenfreundlich und von Akzeptanz und Respekt erfüllt zu sein. Donnernd und schwarz fährt der Intercity ein. G. mag solche Züge. Das ist eine andere Art zu reisen, als mit den schmutzig-weißen Fernzügen der deutschen Bahn, die auf 21. Jahrhundert gestylt wurden, ohne richtig dort angekommen zu sein. Doch wir waren ja bei Toleranz und Weltoffenheit. Du solltest aufhören, zu haten, denkt sich G.. Er und seine Schwester steigen ein.