G. lief am Willersbau der Technischen Universität entlang. Er spiegelte sich im Glas der Eingangstür zum Flügel C. Kurze Haare, dunkle Augen, schwarzer Pullover, olivgrüne Cargohose, schwarze Turnschuhe, leuchtendblaue Regenjacke, warmrote Tasche aus LKW-Plane. Ein Physikstudent. Und während G. unter den herbstfarbenen Bäumen entlangging, dachte er nach, was sich verändert hatte und wo er gerade war, innerlich. Als ihn seine Freunde vom Flughafen abgeholt haben, war es fast gewesen, als wäre er nur Minuten zuvor durch die Sicherheitskontrolle gegangen und eine Schleife in der Zeit hätte sich geschlossen und er wäre einfach durch eine andere Tür wieder zum Ausgang gekommen, ohne in Tansania gewesen zu sein. Sie waren so vertraut, so real gewesen und auch ihre Geschichten klangen fast wie gemeinsame Erinnerungen. Die Familie war ein bisschen älter geworden, aber im Großen und Ganzen waren es die Gleichen. Die Nachrichten, die G. aus Tansania erreichten, nahmen mit den Tagen ab, als er wieder in seine Umwelt eintauchte. Es war ein wenig, als wären seine Erinnerungen aus dem vergangenen Jahr ein Film. G. konnte sie schon genau sehen, aber es war nicht real. Hin und wieder erreichten die Erinnerungen auch seinen Körper, er spürte Herzklopfen, Erschöpfung, Hitze, Wind, wenn Momente kurz aufblitzten. Er konnte wieder das Wasser auf seinen Schultern spüren, wenn er nach der Arbeit unter der Dusche stand, hatte die sengende Sonne im Gesicht, wenn er über den Hof der Feuerwache ging und spürte die Grashalme an seinem Kopf, wenn er in einem Park in Kampala auf der Wiese lag. Als G. über die Straße ging, dachte er sich spontan, dass er das Loch in seiner Hosentasche rasch bei Africraft nähen könnte, bis ihm auffiel, dass die Werkstatt jetzt mehr als 8000 Kilometer entfernt war. Und gleichzeitig war er genau in Deutschland, Dresden, Zellescher Weg. Und er fühlte sich auch real dort. Die Einstellungen für Deutschland waren erfolgreich geladen worden. Rechtsverkehr, Sprache, Temperaturunempfindlichkeit. Und er fühlte sich wieder einsam. Nicht so gefährlich depressiv einsam, mehr, als würde man an einem windigen Novemberabend eine Allee ohne Blätter hinunterlaufen, um in einer Stunde zu Hause zu sein. Als er in Nürnberg in den Zug stieg, war er wieder aufgebrochen und hatte die kleinen Stücke Heimat wieder hinter sich gelassen, die in den letzten eineinhalb Jahren in seinem Leben existiert hatten. Nürnberg, Riga, Ingelsbo, Behringersdorf, Dar es Salaam, Dresden. G. betrat die Universitätsbibliothek, suchte sich einen Platz und begann, auf seinem Laptop zu schreiben. Er war unruhig, wie immer in Zeiten, wo noch so viel fremd war und er darauf wartete, dass etwas passierte. Er wusste, was er in vier Monaten tun würde und freute sich darauf. Die nächste Woche kannte er noch nicht. Er öffnete die Datei mit dem Übungsblatt und stieg wieder in den Tunnel aus Axiomen, Gleichungen und Symbolen. Es waren noch einige Alleen zu bewandern. Bald würde es November sein.